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Athanasius Kircher: Pythagoreïscher Musikautomat, Musurgia Universalis (1650), tom. II, vol. IX, fol. 347
Seit fast 40 Jahren arbeite ich mit Computern im Bereich musikalischer Komposition. Meinen ersten Rechner - einen Atari ST - kaufte ich bereits 1985, als er gerade auf den Markt kam. Da es anfangs kaum brauchbare Software für diese Maschine gab war ich gezwungen, sie selbst zu programmieren. So entwickelte ich meine eigene Softwareumgebung für algorithmische Komposition in der Programmiersprache Logo (einem LISP-Derivat). Während meiner Zeit am IRCAM, dem europäischen Forschungszentrum für Computermusik, portierte ich sie 1991 auf die Echtzeit-Programmierumgebung Max. Die daraus resultierende Realtime Composition Library for Max (RTC-lib) ist eine ständig weiterentwickelte Software-Bibliothek für algorithmische Komposition, die als Open Source frei verfügbar ist. Sie stellt für mich (und viele andere) einen unverzichtbaren Werkzeugkasten für elektroakustische und kompositorische Experimente und Produktionen dar.
Screenshot Real Time Composition Library
Die Krise als Chance
Im Sommer 2022 geriet ich - nicht zuletzt durch den Krieg in der Ukraine - in eine tiefe Krise, die auch meine künstlerischen Aktivitäten fast vollständig zum Erliegen brachte. Es war mir nicht mehr möglich, mit den vertrauten und liebgewonnenen Methoden weiterzuarbeiten. Mir wurde klar, dass ich meine Komfortzone verlassen und wieder einmal Neuland betreten musste. Doch wie soll ich elektronische Musik ohne Computer und Software komponieren?
Während eines "digitalen Entzugs" suchte ich nach neuen Möglichkeiten. Dabei entdeckte ich im Fundus meines Studios einige alte spannungsgesteuerte Analogsynthesizer, mit denen ich vor langer Zeit einmal experimentiert hatte, zum Beispiel den legendären KORG MS-20.
Korg MS-20 Modular Synth
Durch die Verbindung der einzelnen Module – spannungsgesteuerte Oszillatoren, Filter, Funktionsgeneratoren oder Modulatoren – mit Patchkabeln lassen sich individuelle Konfigurationen erstellen, die ein spezifisches "Instrument" und sein Verhalten definieren. Abgesehen von dieser willkommenen architektonischen Offenheit fand ich es trotzdem schwierig, damit meine künstlerischen Ideen umzusetzen. Denn diese Synthesizer wurden für Musikrichtungen entwickelt, mit denen mich wenig verbindet. Außerdem sind viele dieser Geräte mit Keyboards ausgestattet, was für mich ein absolutes "No-Go" darstellt, da das damit verbundene musikalische Denken in Noten im Bereich der experimentellen elektronischen Musik für mich überhaupt keine Rolle spielt.
All along the Coastline
Mein Freund Gerhard Eckel, der am Institut für Elektronische Musik an der Musikuniversität Graz unterrichtet, riet mir, den MakeNoise 0-COAST Synthesizer mit seiner unkonventionellen Systemarchitektur einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Setup meines 0-COAST Modularsynthesizers
Die Architektur des 0-COAST basiert weder auf dem klassischen Moog-Synthesizer der Ostküste noch auf dem experimentellen Buchla-System der Westküste - daher der Name "Zero Coast". Stattdessen versucht er, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Es ist zwar möglich, ein Keyboard oder einen MIDI-Sequenzer anzuschließen, aber das kam für mich sowieso nicht in Frage.
Ich muss zugeben, dass es eine ziemliche Herausforderung war, sich einem System zu unterwerfen, das ich nicht von Grund auf selbst entwickelt hatte. Und es bedurfte einer Reihe von manchmal frustrierenden Experimenten, bis ich endlich in der Lage war, aus diesem Kästchen mit seinen unzähligen Verkabelungsmöglichkeiten halbwegs vernünftige Klänge herauszubekommen. Die einzelnen Steuersignale und Parameter können auch nicht isoliert voneinander betrachtet werden, da sie voneinander abhängig sind. Und schließlich ist es fast unmöglich, einen bestimmten Zustand des Systems wiederherzustellen, da er nicht abgespeichert werden kann. Alles erscheint daher sehr fragil und flüchtig – und entzieht sich jeder Fixierung.
Beim Experimentieren entdeckte ich, wie man durch Rückkopplung nichtlineare Systeme mit chaotischen Zuständen erzeugen kann, die faszinierend klingen. Dies erfordert jedoch ein ständiges Ausbalancieren der Steuersignale mit den unzähligen Reglern. Dieses neu konstruierte "Instrument" live zu spielen, wird zu einem abenteuerlichen Ritt auf einem ungezähmten Pferd, der klangliche Spuren hinterlässt. Vielleicht die perfekte Metapher für die kritische Situation, in der wir uns dieser Tage befinden.
Das war der Beginn meines Work in Progress Coastlines, das auf meinem YouTube-Kanal dokumentiert ist. Bis heute sind dort über 50 Videos zu sehen, die ich in meinem Studio mit meinem 0-COAST aufgenommen habe. In jedem demonstriere ich ein anderes Patching und eine eigene Spielweise.
Im Sommer 2023 verbrachte ich einige Tage am CERN, dem europäischen Zentrum für Teilchenphysik, das sich zwischen der Schweiz und Frankreich erstreckt. Während ich den riesigen Campus mit seinen gewaltigen Beschleunigern und beeindruckenden Detektoren erkundete, spielte ich vier Coastline-Performances an verschiedenen Orten mit einem extrem reduzierten Setup, das nur aus meinem 0-COAST und einem tragbaren, batteriebetriebenen Lautsprecher bestand.
Vom Studio auf die Bühne
Nach Monaten des einsamen Experimentierens in meinem Studio begann ich zu überlegen, wie ich dieses eigenartige Instrument in einer Live-Situation auf der Bühne - allein oder mit anderen - spielen könnte.
Mein erster öffentlicher Auftritt mit dem 0-COAST fand bei meinem Portraitkonzert im Künstlerhaus Wien im September 2022 statt, das von dem Schriftsteller Erwin Uhrmann moderiert wurde. Nach meinem Auftritt bekundete er reges Interesse an einer Zusammenarbeit, was ich gerne annahm. Seither treffen wir uns regelmäßig in meinem Studio zu sogenannten Coastline Sessions, in denen wir ohne vorherige Absprache neue Wege der Text- und Klangimprovisation ausprobieren. Gemeinsam bilden wir ein vernetztes Rückkopplungssystem, in dem der Klang meines Synthesizers Erwins Texterfindung auslöst, die wiederum mein Spiel beeinflusst.
Die obige Aufnahme entstand ohne vorherige Absprache am 1. August 2023 im Studio kHz in Klosterneuburg. An diesem Tag erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass der Kontakt zur Raumsonde Voyager 2 abgerissen ist. Sie ist seit 1977 in den Tiefen des Alls unterwegs und derzeit 20 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Was genau an diesem Tag passiert ist, haben wir mit künstlerischen Mitteln in Echtzeit recherchiert.
Im September 2023 fand unsere erste öffentliche Coastline Session vor ausgewähltem Publikum in der Stiftsbibliothek Klosterneuburg statt. Mit unseren Mitteln erkundeten wir das historische Umfeld und ließen einflussreiche Bücher der Barockzeit zu Wort kommen, darunter Athanasius Kirchers Ars Magna Lucis et Umbrae, seine Musurgia Universalis und das mehrbändige Werk Danubius Pannonico-Mysicus von Luigi Ferdinando Marsigli, in dem unter anderem die historischen Küstenlinien der Donau ablesbar sind.
Weitere Reduktion
Der bislang letzte Schritt in diesem Transformationsprozess von digital zu analog geschah im Sommer 2023, als ich mich fragte, wie ich meine technischen Mittel noch weiter reduzieren könnte. Ist es vielleicht möglich, elektronische Musik nicht nur ohne Computer, sondern auch ohne Synthesizer zu machen?
Ich begann mit einem defekten analogen Mischpult zu experimentieren, das ich in meinem Studio gefunden hatte. Immer noch an der Idee nichtlinearer Rückkopplungssysteme festhaltend, untersuchte ich verschiedene Möglichkeiten der Interaktion, indem ich Klänge nur durch die Rückkopplung von Eingangs- und Ausgangssignalen auf diesem Gerät erzeugte.
In nur drei Tagen – zwischen dem 3. und 5. Juli 2023 – konnte ich die sieben Tracks meiner Studies for No-Input Mixer aufnehmen und gleichzeitig auf Video dokumentieren. Jedes Stück verwendet eine andere Anzahl von "Stimmen" in einem durchaus kontrapunktischen Sinn. Der Titel ist eine Hommage an Conlon Nancarrows berühmte Studies for Player Piano, die mir als Inspiration dienten und mich motivierten, weiter ins Unbekannte vorzudringen.
Dies ist jedoch erst der Anfang einer Reise, die noch lange nicht zu Ende ist.
Karlheinz Essl
Karlheinz Essl (* 1960 in Wien) ist Komponist, Elektronik-Performer, Medienkünstler und Software-Designer. Er studierte Komposition bei Friedrich Cerha und Musikwissenschaft in Wien und promovierte 1989 über Anton Webern. Composer in Residence bei den Darmstädter Ferienkursen, am IRCAM in Paris und bei den Salzburger Festspielen. Seit 2007 Professor für Elektroakustische Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Neben Instrumentalwerken und Kompositionen mit Live-Elektronik entwickelt er generative Kompositionssoftware, Improvisationskonzepte, Klanginstallationen und Performances. Zusammenarbeit mit Künstlern wie Harald Naegeli ("Sprayer von Zürich") und Jonathan Meese, den Schriftstellern Andreas Okopenko und Erwin Uhrmann und der Choreografin Andrea Nagl. Als Improvisator tritt er mit selbst entwickelten Software-Instrumenten und neuerdings auch mit analogen Modularsynthesizern auf.
Artikelthemen
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