Ambisonics: Auf der Suche nach dem geeigneten Klang

Was war zuerst da – der Klang oder sein Raum? Spektrale Eigenschaften liefern Informationen über sinnvolle, zu einem Klang passende Raumbewegungen. Auf der Suche nach dem geeigneten Klang entdecke ich das Potential von Ambisonics neu.

Veronika Mayer Veronika Mayer
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momentum I – Suche

„In Newtonian mechanics, momentum [...] is the product of the mass and velocity of an object.“  1

momentum ist der Titel meiner ersten Live-Performance mit Ambisonics. Ich war auf der Suche nach dem „richtigen“ Klang: nach einem Klang, der in sich einen räumlichen Aspekt und eine Bewegung trägt. Ich wollte einen Klang, der den ihm innewohnenden Raum und die dazugehörige Bewegung ausdrücken kann, noch bevor er mit digitalen Tools zur Verräumlichung bearbeitet wird. Spatialisierung, Ambisonics, sollten dann genau diese bereits wahrnehmbaren Eigenschaften des Klangs verstärken, hervorheben und darstellen und ihn nicht künstlich zu etwas machen, was er nicht ist.

Klang besitzt Raum. Warum Ambisonics?

Meine praktische Annäherung an das Thema Ambisonics begann mit eben dieser Motivation: Ambisonics nicht für die Aufnahme eines Klangfelds und dessen möglichst originalgetreue räumliche Wiedergabe zu verwenden, sondern die Sache von einer anderen Seite aufzurollen: Klänge übertragen Körperlichkeit und räumliche Parameter wie z.B. Nähe, Ferne, Bewegung, durch ihre spektralen und morphologischen Eigenschaften. Die Spatialisierung eines Klangobjekts erfolgt in der Praxis erst danach. Im ersten Schritt soll daher ein (quasi räumlich dimensionsloser) Klang von sich aus bestimmen, welchen Raum er braucht. Danach untersuche ich, wie ich mithilfe von Ambisonics die Wahrnehmung dieser Räumlichkeit unterstützen kann.

Klänge, die bei der Wiedergabe in üblichem Stereo vorerst keine 3D-Audio-Eigenschaften haben, sind z.B. digital generierte Klänge, die ohne spezielle räumliche Merkmale produziert werden. Weiters können das auch Mono- oder Stereoaufnahmen sein. Warum werden diese Sounds im Nachhinein mit einem künstlichen dreidimensionalen Raum ausgestattet? Welchen musikalischen Zweck kann das erfüllen? Gibt es Aspekte, die darüber hinausgehen, ein immersives Hörerlebnis zu schaffen?

Mein Fazit: Damit das Format Ambisonics musikalisch essentiell ist, brauche ich zuerst den geeigneten Klang. Welche Voraussetzungen muss ein Klang dafür mitbringen, welche Eigenschaften soll er besitzen? Gibt es bestimmte Klänge oder Geräusche, die besser für 3D-Audio geeignet sind als andere?

momentum II – Wahrnehmung

Luft, kratziges Rauschen, eine Hin- und Her-Bewegung, ein An- und Abschwellen, ein Näherkommen und eine Entfernung. Im Loop: Gehört als ein regelmäßiger Rhythmus, ein Puls, eine Assoziation mit Atmen. Ein Bewegungsablauf, eine körperliche Empfindung. Ein Klangkörper im übertragenen Sinn.

Es ist die Aufnahme des Balgs eines Akkordeons: Öffnen und Schließen, Auseinanderziehen und Zusammenschieben: das (Luft)Geräusch einer Bewegung. 

Die Audio-Aufnahme liegt so lange zurück, dass ich mich an die genauen Bedingungen der Aufnahme nicht mehr erinnern kann. Mit welchem Mikrofon? In welchem Raum? Mit Sicherheit war es keine professionelle Aufnahme mit einem Stereopaar und kein 3D-fähiges Mikrofon, sondern eher ein kleines Aufnahmegerät mit eingebautem Mikrofon, durchgeführt im Wohnzimmer.

Dieses Sample des Akkordeonbalgs ist für mich ein geeigneter Klang voll Eigenraum und artikulierter Bewegung. Ein idealer Ausgangspunkt, um mich in die gegebene Klangmorphologie zu vertiefen und mit den Mitteln von Ambisonics zu experimentieren.

Spürbare Räume 

Die Idee, Ambisonics als ein Werkzeug für Klangbearbeitung zu verstehen und nicht vorwiegend als räumliches Tool vor allem im Aufnahme- und Wiedergabeprozess, hat mich nicht mehr losgelassen. Wenn ich in diesem Kontext von Klangbearbeitung spreche, dann in dem Sinn, dass ich Einfluss nehme auf die mögliche Wahrnehmung, die Wirkung und das Verstehen eines Klangs. Denn ob ich ihn beispielsweise nur links, nur rechts, in einer Bewegung von links nach rechts, quadrophonisch oder als greifbares 3D-Objekt erfahre, ist dafür bedeutend. Ich kann mithilfe von Ambisonics das Raumgefühl, das ein Klang vermittelt – und das ist etwas anderes als der „echte“ dreidimensionale Raum einer Aufnahme! –, das Plastische, das Haptische, noch deutlicher übertragen und intensiv erlebbar machen. Ein Klang, der von vornherein in sich eine Bewegung trägt oder nach einer Bewegung verlangt, kann mithilfe von Ambisonics (weitaus intensiver als im reinen Mehrkanal-Setting) in seiner inhärenten Bewegung unterstützt und verstärkt werden. 

momentum III – Realisierung

Obwohl ich die Klangquelle meines Samples kenne, war meine erste Assoziation beim Hören der Aufnahme des Akkordeonbalgs der menschliche Atem, Lebendiges. Es brauchte Mittel, mit denen die innere Bewegung des Samples, meine Assoziation des Atmens und dieser lebendige pulsierende Raum getragen und dargestellt werden können. Es sollte mehr sein als ein Wandern von links nach rechts. Ein intensives körperliches Erlebnis, gedacht als ein dreidimensionales Klangobjekt, das in seiner Unbedingtheit – und meiner Deutung als Lebensnotwendigkeit – körperlich fassbar und verständlich wird.

momentum habe ich mit der Software Max/MSP und IEM-Plugins für Ambisonics realisiert.

momentum Max/MSP Patch, Screenshot 3

momentum Max/MSP Patch, Screenshot 2

momentum Max/MSP Patch, Screenshot 1

Die Originalaufnahme ist 6 Sekunden lang. Mittels Time Compression habe ich verschiedene Versionen erstellt, die kürzer sind als das Original, zwischen 1 und 5 Sekunden. Die Hin- und Her-Bewegung, der Puls, das Atmen wird beschleunigt. Im Zuge der Performance habe ich die Geschwindigkeit der Bewegungen im 3D-Feld an die Dauern der Samples angepasst: Die unterschiedlichen Bewegungsbahnen folgen den Tempi bzw. den jeweiligen Dauern des Öffnens und Schließens des Balgs, dem Ein- und Ausatmen. Die räumliche Ausdehnung der Klänge, die Besetzung des 3D-Feldes, verändert sich mit den Bewegungsbahnen. 

Räumliche Vergrößerungen, Verkleinerungen und unterschiedliche Komplexitäten der Bewegungsbahnen werden gestaltende Mittel zur Intensivierung der Klangwahrnehmung. In diesen Prozessen, in denen ich Ambisonics eine unterstützende Rolle für Raum und Bewegung zuteile, sind das die wichtigsten performativen Elemente. Der Klang gibt durch seine spektralen Eigenschaften und (subjektiven) Assoziationen den Rahmen für Raum und Bewegung vor; Werkzeuge zur Spatialisierung, in diesem Fall Ambisonics, dienen den Eigenschaften des Klangs. 

Weiters habe ich in momentum mit klanglicher Verfremdung ähnlich einer Distortion gearbeitet. Aus dieser Verfremdung und Dichte von Samples in sich überlagernden Räumen schälen sich nach und nach die Originale heraus und machen den Puls und den Klang des Akkordeonbalgs hörbar. Aus Gesprächen weiß ich, dass das Publikum bei dieser Live-Performance Unterschiedliches wahrnimmt: Wellen, Stimmen, Grooves.

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momentum (binaural, excerpt) by Veronika Mayer

Ambisonics als Live-Processing-Tool in experimenteller Musik

Als elektronische Musikerin liegt mein Interesse vor allem darin, Ambisonics als gestaltendes Tool in Live-Performances und in der Improvisation einzusetzen, auch in der Kombination von akustischen Instrumenten mit Live-Elektronik. Ich kann damit klanglich-musikalisch sowie auf räumlicher Ebene direkt auf Mitmusiker*innen reagieren und deren Klänge spontan im Raum „konfigurieren“. So entsteht eine vielschichtige Interaktion zwischen Performer*innen, Sounds, Klangräumen und -bewegungen, die wiederum die Wirkung und Wahrnehmung von Klängen beeinflussen. 3D-Audio wird zur Live-Prozessierung von Instrumenten und Samples eingesetzt. Im Fall von Mixed Media gilt es auch mit der Platzierung der akustischen Instrumente im Raum und ihrer Mikrofonierung zu experimentieren. Wie behandeln wir das Verhältnis zwischen Originalklang und verstärktem Klang, zwischen der realen Klangquelle im Raum und deren 3D-Klangprojektion? Und – damit schließt sich der Kreis wieder – welche Klänge sollen auf Instrumenten erzeugt werden, sodass sie für das Setzen in den ambisonischen Raum geeignet sind?

Klangpotentiale

Faszinierende Möglichkeiten von Ambisonics sind die spezielle räumliche Ortbarkeit oder eine immersive, einhüllende Klangsphäre sowie das Potential von körperlich-räumlichem Erleben. All das erfordert meiner Meinung nach spezielle Klangquellen, die eben das vermitteln und tragen können. 

Sound mittels 3D-Audio zu gestalten möchte ich nicht als zusätzlichen effektvollen Zauber verstehen, sondern als Bekräftigung dessen, was der Klang ist. Denn im Wechselspiel zwischen Klangcharakteristik und Verräumlichung durch Ambisonics lassen sich vorhandene Eigenschaften von Klangmorphologien verstärken und bewusster und plastischer hervorheben als im frontalen Stereo-Setting oder in Akusmatik. Spatialisierung wird zu einem Mittel, das die Klangcharakteristik unterstützt. 

Vor Jahren habe ich folgenden Satz von Trevor Wishart entdeckt: „Is there a natural morphology of sounds?“2 – Gibt es eine natürliche Morphologie der Klänge? Was ist die natürliche Gestalt eines Klangs? Was ist der natürliche Raum eines Klangs? Prägt der Raum den Klang oder der Klang den Raum? Was war zuerst da ...?

Wishart, Trevor (1996). On Sonic Art. The Netherlands: Harwood Academic Publishers GmbH

Veronika Mayer

Veronika Mayer

Veronika Mayer ist Komponistin, Klangkünstlerin, Laptop-Musikerin und lebt in Wien. Ihre Musik widmet sich der Wirkung minimaler Klangveränderungen und fordert Offenheit für subtile Details ein. Seit 2015 Lehrtätigkeit im Studium Computermusik und Klangkunst am IEM (Universität für Musik und darstellende Kunst Graz). Im Artistic Research Projekt Audio Ghosts (FWF-PEEK) forscht sie zu psychoakustischen Illusionen in der Klangkunst. Sie ist Co-Kuratorin des Klangkunstfestivals Klangmanifeste.

Originalsprache: Deutsch
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