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Lange Zeit hat sich an der Art, wie wir gemeinsam Musik oder ein Live-Konzert hören, nicht viel verändert. Eine Bühne, links und rechts ein Lautsprecher und seit einigen Jahrzehnten dann viele in einer Reihe. Wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass das Gehörte und Gesehene genau genommen oft nicht übereinstimmen, dass wir, wenn wir nicht gerade in der Mitte stehen, die Stimme von woanders kommt, als es eigentlich sein sollte. Will man im Theater eine subtile klangliche Atmosphäre kreieren, ist die Vorstellungskraft des Publikums gefordert mitzuhelfen, wenn einem die Vogerl nur von oben links entgegenzwitschern. Und soll das Publikum einmal so richtig überwältigt werden, kann man ja einfach die Lautstärke aufreißen – Hörsturz inklusive. Das muss alles längst nicht mehr so sein. Lösungen liegen theoretisch schon lange am Tisch – oder eben in der Schublade. Jetzt sollten wir endlich in die Umsetzung gehen.
Über mögliche Transformationen der Aufführungspraxis durch leistbare Multichannel-Systeme
Die Film- und Gaming-Industrie haben längst die Vorteile von immersivem Sound erkannt und konsequent umgesetzt. Kinos müssen in teures Audioequipment investieren, um zertifiziert zu werden und es funktioniert – sowohl klanglich als auch geschäftlich für die Firma, die ihr nicht offen gelegtes Dekodierungsverfahren als das ultimative Klangerlebnis an tausende Heimkinobesitzer:innen verkauft. Auch die Stimme ist dank Centerspeaker da wo sie sein soll, und zwar für alle, unabhängig von der Sitzposition, weil sie eben keine Phantomposition ist, sondern wirklich aus einem Lautsprecher kommt. In Game Engines werden klanglich realistische Umgebungen geschaffen, indem Raumklang mit Hilfe von Konvolution über Ambisonics Impulsantworten simuliert wird. Der Schuss in der U-Bahn-Station klingt anders als auf der Wiese und das macht auch schon auf Kopfhörern einen großen Unterschied für die Immersion.
Warum werden diese Tricks nicht auch in Kunst und Kultur, in Konzerthäusern, Clubs und Theatern verwendet? Dafür gibt es wohl mehrere Gründe: hohe Anschaffungskosten für Multichannel-Systeme, fehlendes Vertrauen in den Einsatz von Computer für Signal-Processing bei Live-Beschallung, fehlendes Know-how im Arbeiten mit Ambisonics, zu wenige künstlerische Inhalte für Veranstalter:innen und nur wenige potentielle Aufführungsorte, um für Künstler:innen genug Anreiz zu sein, darauf ausgelegte Programme zu entwickeln. Ein klassisches Henne-Ei-Problem also. Trotzdem stehen die Zeichen auf Veränderung gerade gut dank einiger ambitionierter Personen, Projekte und Institutionen, die auf offenen Zugang zu Informationen setzen; auch in Kombination mit der Möglichkeit, über 3D-Druck die Fertigung von Produkten selbst in die Hand zu nehmen.
In Ambisonics-Insider-Kreisen längst bekannt und bewährt sind die Plugins vom IEM Graz, die als Open Source Lösung zuverlässig und performant ihre Dienste leisten. Wer sich genauer mit der Theorie und vielen hilfreichen statistischen Untersuchungen wie Lokalisierungsgenauigkeit in unterschiedlichen Lautsprecherkonfigurationen beschäftigen möchte, kann sich über das online frei zugängliche Buch “Ambisonics” von Frank Zotter und Matthias Frank in die Thematik vertiefen.
OTTOsonics – offene Plattform für immersiven Sound
Mit OTTOsonics starteten wir, d.h. Manu Mitterhuber, Rojin Sharafi, Enrique Tomás und Martin Kaltenbrunner im Jahr 2021 mit plötzlich viel Zeit und einer Finanzierung durch das Kulturministerium und des Landes OÖ den Versuch, die für Live-Sound notwendige Hardware kostengünstig und trotzdem in hoher Qualität zu entwickeln. Der Henne-Ei Situation, die mit dem Erfolg des Projektes gekoppelt war, waren wir uns von Anfang an bewusst, und so setzten wir in unseren Prioritäten auf eine Mischung aus Hardware-Entwicklung und Offenlegung, Organisieren von Konzerten, einem Artists-in-Residence-Programm und einem Festival, Wissenstransfer und Vernetzung. Gerade die Schaffung eines Netzwerkes von Veranstaltungsorten, das es Künstler:innen und Bands erlauben würde, mit Ambisonics-Programmen auf Tour zu gehen, schien wie eine weit entfernte Traumvorstellung. Fast drei Jahre später und über ca. 600 im Kellerabteil gedruckten Lautsprechern, sind wir schon ein Stück weiter und haben lokal eine wohl weltweit einzigartige Dichte an kompatiblen Soundsystemen und eine Reihe an internationalen Kooperationen mit Partnerprojekten in Deutschland, Tschechien, Slowenien, Israel, China und bald auch Niederlande, Frankreich und Mexiko.
OTTOsonics Speaker und Amp Workshop, Kapu Linz
Wozu werden nun diese Mehrkanal-Soundsysteme konkret verwendet? Die Anzahl der Personen, die mit solchen arbeiten und auch der künstlerische Output scheinen oft umgekehrt proportional zu den Anschaffungskosten zu sein. Im Alten Bauhof Ottensheim sind die kleinen selbstgebauten Lautsprecher mittlerweile bei fast jedem Konzert im Einsatz. Dabei muss man wissen, dass sich hier alles sammelt, was der kleine Ort zu bieten hat – Jazzkonzerte, Lesungen, Chorkonzerte, Rock, Punk, Elektronik, Klassik, Theater, Kraut und Rüben – ein perfektes Test Bed sozusagen. Auch lernen immer mehr Techniker:innen damit umzugehen und verwenden die um das und über dem Publikum platzierten Lautsprecher entweder als Ergänzung zur Stereo-PA und als eigenständige PA – alles nahtlos in den Workflow am Digitalmischpult integriert. Metal-Gitarren schieben sich nach vorne und treffen das Publikum links und rechts, während Vocals und bassige, punchige Signale in der Mitte bleiben – so wie die Musik konzipiert ist. Bei großen Formationen mit vielen Signalen erreicht man Transparenz im Mix im Handumdrehen. Stimmzuspielungen für Theater, die plötzlich von hinten kommen erzeugen einen extra Gruselfaktor und in Ambisonics aufgenommene Atmos transportieren das Publikum an andere Orte. Überhaupt wird die Intensität in der Wahrnehmung gesteigert, man taucht in den Klang ein, ist umhüllt davon, ohne dass es unangenehm oder gefährlich laut werden muss. Effekte wie Hall und Delays klingen viel besser, wenn sie nicht aus den gleichen zwei Positionen kommen wie der Rest, und wenn man dann noch Räume über Ambisonics Impulsantworten in Echtzeit auf Live-Inputs anwendet, kann man ein Streichquartett in einem großen Konzerthaus erklingen lassen und vergisst kurz mal, dass man in einer alten Garage mit viel Molton sitzt.
Multichannel-Systeme gelten wohl immer noch als anspruchsvoll und akademisch – und vieles, was wir in der Vergangenheit darüber hören konnten, klang auch so. Wir lieben es und wollen es nicht missen, doch ein riesiges Potential von Innovation und Transformation kann freigesetzt werden, wenn es eine stilistische und soziale Öffnung gibt, wo auch kleine, ländliche, hoch- und subkulturelle Kunst- und Kulturschaffende verschiedenster Genres mitgenommen werden. So können neue Betätigungsfelder für Komponistinnen und Sounddesigner:innen, neue Live-Formate für Veranstalter:innen und neue Forschungsgebiete für Universitäten entstehen und sich wunderbar verbinden und ergänzen. “Bottom-up, Top-down” war immer wieder ein Leitmotiv für uns und steht im Zentrum vieler Entscheidungen und Aktivitäten.
Allein, was sich diesbezüglich in Linz und Umgebung gerade tut, ist beachtlich: am tangible music lab werden Konzepte für neue Instrumente, die direkt mit Klangräumen interagieren, erdacht und umgesetzt, das phönix macht mit “Klimazonen” immersives Theater aus Sound und Licht, an der FH Hagenberg wird die Schnittstelle zu Game Development bearbeitet, das Klangfestival in Gallneukirchen und das OTTOsonics Festival in Ottensheim gehen mit Leidenschaft und Freude ins Experiment und sogar die Kapu nimmt bald ihre selbst gebauten OTTOsonics Lautsprecher und Verstärker in Betrieb! Es scheint, die Zeit ist reif! Multikanalsysteme werden ein normaler Gebrauchsgegenstand.
Manu Mitterhuber
Manu Mitterhuber, *1981 in Österreich, Initiator von OTTOsonics. Ausbildung an der Musikschule Linz und am Guitar Institute London, 2005 Gründung eines Tonstudios in Linz, arbeitet seither als Musiker im Bereich improvisierter und experimenteller Musik als Sounddesigner und Komponist für zeitgenössischen Tanz und Theater und als Musikproduzent. Er ist Mitbegründer von Zach Records und der OTTO Kulturgenossenschaft, als Musiker durch regelmäßiges Touren in Europa aktiv und ist an zahlreichen Veröffentlichungen künstlerisch beteiligt. Aktuell intensive Beschäftigung mit Akustik, Elektrotechnik und Informatik mit dem Ziel neue, immersive Beschallungskonzepte umzusetzen.
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