9 Minuten
Leute gehen auf der Straße. Sie gehen an einem vorbei, alle in ihrem eigenen Tempo. Sie gehen an einem vorbei, werden lauter, werden wieder leiser, räumlich verteilt. Weiter weg wird gehämmert, in unterschiedlichen Distanzen und jeweils anderen gleichmäßigen Tempi ... Das akustische Klopfen der Fußgängerampeln beim Überqueren der Straße, einem Klopfpuls zum anderen.
Wir sind es gewohnt, Pulsationsüberlagerungen zu hören und uns in diesen zu bewegen. Tuttipulsationen, also gemeinsame, gleichzeitige Pulsationen, kennen wir in den Umgebungsklängen eigentlich kaum. Ein „Tuttigehen“, beispielsweise beim Militär, ist klanglich kaum, vielleicht noch soziologisch interessant. Die Klanglichkeit der verschiedenen Pulse und die räumliche Bewegung darin faszinieren mich seit langer Zeit und stellen für mich ein zentrales Thema meiner musikalischen Arbeit dar. Es sind die Übereinanderlagerung von unterschiedlich schnellen Tempi und deren kompositorische Auswirkungen, die für mich so interessant sind.
Realisierung
Technik
Um eine tempopolyphone Musik, also eine Musik, in der unterschiedliche Tempi gleichzeitig passieren, zu realisieren, benutze ich das technische Hilfsmittel von Click-Tracks. Dabei ist meist für jede*n Musiker*in eine eigene Clickspur als Audiodatei vorhanden. All diese Audiodateien werden gleichzeitig gestartet und den einzelnen MusikerInnen über Kopfhörer zugespielt. Meistens benutze ich dafür einen In-Ear-Kopfhörer. Dieser hat den großen Vorteil, dass der Klang des Clicks außen wenig wahrnehmbar ist, lässt den/die Musiker*in aber auch den gespielten Klang schlechter wahrnehmen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Knochenschall-Kopfhörer. Dieser überträgt den Klang über die Wangenknochen und den Schädelknochen zum Innenohr und lässt das Ohr zum Hören frei. Ich habe diese bisher noch zu wenig getestet. In einem ersten Versuch erschien mir diese Art von Hörer sehr effektiv zu sein.
Alle Audiodateien werden in einer Musiksoftware gleichzeitig gestartet, jedes Signal gelangt über einen anderen Kanal des Audiointerfaces zu den Kopfhörern.
Verwendet man statt dieser Technik beispielsweise MP3-Player, wobei auf jedem Player ein anderes Clickfile abgespielt wird und alle Player auf ein Zeichen gemeinsam gestartet werden, muss man unbedingt bedenken, dass jeder Player eine leicht andere Abspielgeschwindigkeit hat!
So ist ein komponiertes Tutti aller Pulse nach einigen Minuten wegen der Divergenz der Geschwindigkeiten nicht mehr möglich!
Das Click
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Clicksignale, wie die oft verwendeten Claves-Sounds bei leisen Stellen durchklingen, also von den ZuhörerInnen gehört werden können. Ich verwende Sinusschwingungen unterschiedlicher Tonhöhe, die mit einer exponentiell abfallenden Kurve (1 zu 1/100) von zwei unterschiedlichen Längen multipliziert werden. Die längeren für die 1, die kürzeren für die restlichen Schläge des Taktes. Des Weiteren wird alle 5 Takte die Taktzahl angesagt.
Die Notation
Durch die unterschiedlichen Tempi ist unbedingt zu bedenken, dass jede*r Spieler*in zu einem Zeitpunkt in einem anderen Takt mit anderer Taktzahl spielt. Nehmen wir an, Instrument 1 spielt ♩ = 60, das zweite Instrument ♩ = 120. Beide spielen einen 4/4-Takt. In diesem einfachen Beispiel wäre bei Sekunde 12 das erste Instrument in Takt 3, das zweite Instrument in Takt 6.
Um diese Verhältnisse der Tempi darzustellen, erstelle ich zuerst die Partitur, in die ich dann schreibe. Dabei mache ich in der obersten Notenlinie der Zeile Punkte, bei denen im jeweiligen Tempo die Viertel gespielt werden.
Nehmen wir an, Instrument 1 spielt Tempo ♩ = 60, Instrument 2 ♩ = 73, Instrument 3 ♩ =78.
Sagen wir, 1 Sekunde in der Partitur entspricht der Länge von 1,5 cm. So wäre der Abstand der Viertel bei Instrument 1 1.5*60/60, also eben 1.5 cm, bei Instrument 2 1.5*60/73, also ca. 1.23288 cm und bei Instrument 3 1.5*60/78 1.15385 cm.
Daraus ergeben sich, wie ich es bezeichne, Temponetze. Als Beispiel hier eine Partiturseite aus meinem Ensemblestück „beneden“.
Partiturseite aus „beneden“ für 8 Instrumente, Sängerin und analogen Synthesizer.
Es handelt sich bei dieser Notationsart um eine Art von Space-Notation. Weiterhin gilt, dass alles, was untereinandersteht, auch gleichzeitig klingt. Vergrößert sich die Besetzung und die Anzahl der unterschiedlichen Tempi, stößt man an die Grenzen der Lesbarkeit:
In meiner Messe singt beim Gloria ein ca. 60-stimmiger Chor. Da mir bei diesem Stück die exakte Synchronizität der Stimmen bzw. der Tempi nicht wichtig war, habe ich für jede Stimme eine Audiospur erstellt, die auf Mp3-Playern durch die/den jeweiligen Sänger*in gleichzeitig gestartet und abgespielt wurde. Auf dieser Spur war eine Melodie zu hören, die die Sänger*innen mitgesungen haben – jede Melodie der einzelnen Stimmen in einem anderen Tempo.
Für den Chorleiter habe ich eine tempopolyphone Partitur des Glorias erstellt. Ich habe dabei nach dem oben beschriebenen System die Partiturseite in einem Grafikprogramm kreiert. Mit klassischen Notationsprogrammen wie Sibelius oder Finale sind tempopolyphone Partituren fast nicht oder nur unter immensem Arbeitsaufwand möglich und erzeugen darüber hinaus auch keine exakte Genauigkeit.
Es entstand diese Seite:
Wie man sehen kann, entsteht zwar eine, wie ich finde, imposante Notationsseite, deren Lesbarkeit aber an ihre Grenzen stößt. Für eine*n musikalische Leiter*in ist es unmöglich, exakt zu sagen, ob jede Stimme exakt richtig gespielt hat. Man hört nur mehr Texturklang. Paradoxerweise führt also eine exakt genaue Notation der Tempopolyphonie zu einem Notenbild, das klanglich nicht mehr exakt erfassbar ist. Man kann sich nur ungefähr darin orientieren.
Gemeinsam mit dem Dirigenten und Komponisten Jaime Wolfson habe ich bei einem anderen Stück ein System entwickelt, wie solche dichten tempopolyphone Verflechtungen in einer Notation dargestellt werden können:
In meinem Stück „Saitenraum II“ für 60 Streicher in drei verbundenen Räumen (jedes Instrument spielt im eigenen Tempo) gibt es eine Passage, in der sich die Töne einer Melodie in Vierteltonschritten verändern, bis alle Töne die gleiche Tonhöhe in unterschiedlichen Oktaven erreichen. Die Tonhöhenänderungen finden im ähnlichen Zeitraum statt (1 – 3“). Wir haben uns für die Lösung entschieden, nur eine Stimme in die Partitur zu schreiben, von den anderen Stimmen sind nur die Taktstriche mit den Viertelpunkten angegeben. So konnte der Dirigent am besten das Wesentliche aus der Partitur lesen. Die einzelnen Stimmen waren jedoch vollständig ausnotiert.
Konstruktion
Prägend für meine tempopolyphone Arbeit war für mich der Text „Wie die Zeit vergeht“ von Karlheinz Stockhausen. In diesem Text setzt er zwei musikalische Parameter, die bis dato als getrennt betrachtet wurden, auf eine Achse: Der Rhythmus und die Tonhöhe. Er geht dabei von der Überlegung aus, dass ein Puls, z.B. Rechteckpulsation, bis ca. 16 Hz als Puls, also als Rhythmus, wahrgenommen wird. Beschleunigt man diesen Puls, entsteht eine Tonhöhe. Daraus schließt Stockhausen, dass Rhythmus und Tonhöhe auf einer Achse gedacht werden können.
Intervallproportionen können aus diesem Grund auf Rhythmusproportionen übertragen werden. So sind für ihn die Intervallproportionen von 2:1, also der Oktave, auf den Rhythmus übertragbar: eine Halbe ist zu einer Viertel, - eine Achtel zu einer Sechzehntel eine „Daueroktave“.
Aus dieser Überlegung entwirft er sein bahnbrechendes Werk „Gruppen für drei Orchester“. Rhythmus und Tonhöhenkonstellationen leitet er nach dem erwähnten Prinzip von einer symmetrischen Allintervallreihe ab.
Diese Überlegung, Tonhöhen und Tondauer auf einer Achse zu sehen, vor allem Temporelationen zueinander neu zu konzipieren, hat mich nachhaltig geprägt.
In einer meiner ersten tempopolyphonen Arbeiten „Puls 3“ für Automatenklavier (Automat von Winfried Ritsch) habe ich an einer Stelle des Stücks jede Tonhöhe des Klaviers in einem anderen Tempo repetieren lassen. Bei der Gestaltung der einzelnen Tempi habe ich mich dabei nach den Überlegungen von Stockhausen gerichtet. Da in einem wohltemperierten System ja nur die Oktave rein ist und die 12 Halbtonschritte als gleich groß verstanden werden und deswegen mathematisch die 12√2 als Faktor besitzen, kreierte ich anfangs die Tempi meines Stückes nach folgendem Prinzip: Das Tempo vom repetierenden c mit der 12ten Wurzel aus 2 ergibt das Tempo vom repetierenden cis, diese multipliziert mit der gleichen Wurzel das Tempo vom repetierenden d ergibt usf.
Das Tempo von Subkontra a =25, das Tempo dann von Subkontra b= 25*12√2= 26.49 usf.
Daraus ergab sich folgendes Problem: Da jede Oktave das doppelte Tempo ergibt, erhalte ich mit diesem Prinzip für das c5 folgendes Tempo: ♩ = ca. 3805, was natürlich völlig unbrauchbar war. Wende ich das Prinzip nur auf zwei Oktaven an, ist das höchste Tempo viermal so schnell wie das kleinste und führt zu folgendem Klanggebilde: (Anfangston kleines c mit Tempo ♩ = 60, höchster Ton c2 mit ♩ = 240)
Ich war mit dem Klangresultat nicht zufrieden. Die Pulsationen zueinander schienen mir zu gleichmäßig, zu statisch und nach einiger Zeit ermüdend langweilig, kurz, ich fand das klangliche Resultat nicht zufriedenstellend.
Bei meiner weiteren Suche nach einer für mich passenden klanglichen Möglichkeit, stieß ich auf die Verhältnisse von Primzahlen, natürliche Zahlen also, die nur durch sich oder 1 teilbar sind.
Ich ordnete jedem einzelnen Tempo eine Primzahl zu.
Dabei versuchte ich nun den Faktor kleinstes Tempo zu größtem Tempo wie im vorigen Beispiel beizubehalten (also 4), und komme auf folgende Möglichkeit: Kleinste Primzahl 41, aufsteigend bis größte Primzahl 163.
So erhalte ich folgende Tempi:
Tempi von kleinem repetierenden c: 60*41/41; vom kleinen cis 60*43/41, vom kleinen repetierenden d 60*47/41 usf.
Daraus ergibt sich folgendes klangliches tempopolyphones Geflecht:
Ich habe in diesem Beispiel die Primzahlen in einer Reihenfolge verwendet. Es gibt dafür noch unzählige weitere Möglichkeiten. Vergleiche ich die „wohltemperierte Temposkala“ mit der „Primzahlentemposkala“, klingt für mich letztere wesentlich lebendiger, spannender. Die Beziehungen der einzelnen Pulsationen scheinen vielmehr variabel, nicht statisch, das Geflecht wirkt lebendiger.
Ich kann über den mathematischen Grund nur spekulieren: Die Reihenfolge der Primzahlen ist ja nicht durch eine Funktion beschreibbar. Vielleicht ist genau diese mathematische Nicht-Fassbarkeit klanglich erlebbar und interessant.
Und noch ein weiterer Punkt fasziniert mich: Verwende ich für die einzelnen Tempi Primzahlenverhältnisse, tritt folgender Aspekt zu Tage:
Bei 24 unterschiedlichen Tempi (wie in unserem Beispiel) treten immer wieder andere zeitliche Beziehungen der Pulsationen zueinander auf. Mathematisch wiederholen sich diese Beziehungen erst nach Primzahl P1*P2*P3 usf. Einheiten. D.h.: In unserem Beispiel mit der kleinsten Primzahl von 41 und der größten von 163, wiederholen sich die Beziehungen aller Pulsationen zueinander erst nach 464362553 Einheiten! D.h., man hört im ganzen Stück nie die gleichen Verhältnisse zueinander!
Es gibt zwar immer wieder Verdichtungen und Zerstreuungen der Pulsationen, diese aber immer in anderer Konstellation zueinander.
Ich benutze seit meinen frühesten Stücken immer wieder Primzahlenverhältnisse, um die einzelnen Tempi zu kreieren.
Möglichkeiten
Die oben beschriebenen Überlagerungen der Temposchichten und die kompositorische Arbeit damit ergeben für mich seit Jahren immer wieder neue Möglichkeiten.
Ziselierende Klänge, die kompositorische Gestaltung von Textur- und Strukturklängen durch genau konstruierte Accelerandi und Riterandi, die in Tuttipulsationen übergehen, sind immanente Gestaltungsprinzipien meiner Kompositionen. Zudem entstehen neue Möglichkeiten:
In meinem Stück „Saitenraum 1 und 2“ habe ich die tempopolyphonen Strukturen auf unterschiedliche Räume verteilt, die vom Publikum begangen werden konnten. Es treten Phasenverschiebungen zwischen den einzelnen Räumen auf, die nach und nach in tempopolyphone Geflechte übergehen. Minimale rhythmische Verschiebungen können durch den Rezipienten selbst akustisch ergangen werden. Des Weiteren können durch die Clicktechnik Amateurmusiker*innen in die Interpretation des Stückes miteinbezogen werden. Für mich eine tolle Möglichkeit, da neue Musik zu oft ausschließlich im Expertenmilieu passiert, interpretiert und wahrgenommen wird.
In meinen Stücken „Puls 4“ für 35 Röhren (zur Eröffnung des Musikprotokolls 2010, geschrieben für die von Constantin Luser entwickelte Molekularorgel, bestehend aus 35 Blechblasinstrumenten) spielten Amateurmusiker*innen aus unterschiedlichen Grazer Blechblasformationen das Stück. Sie mussten meist nur auf den Schlag des jeweiligen Clicks spielen. Ich komponierte jedoch diese Schläge zueinander, sodass deren Überlagerung komplexe Klanggewebe gebildet hat.
Bei meinen 2024 beim Festival New Music Dublin und bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik uraufgeführten Stück „little beauty“ für variable Besetzung zwischen 40 und 80 Bläser, habe ich mit einer offeneren Form gearbeitet: Ich gab den einzelnen Musiker*innen lediglich mögliche Tonhöhen vor, weiters rhythmischen Pattern (jedes Instrument in einem anderen Tempo), die sich in den einzelnen Stimmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten änderten. Die Interpret*innen konnten frei aus dem Tonhöhenvorrat wählen. Diese freiere Gestaltung wurde von den Musiker*innen gut aufgenommen, ermöglichte ihnen eine offenere musikalische Gestaltung und motiviert mich, weiter damit zu arbeiten.
Gemeinsam mit dem Choreographen und Animationsfilmer Paul Wenninger arbeite ich derzeit daran, körperliche und filmische Bewegungen sowie akustische Verläufe und Verschiebungen erlebbar zu machen.
In einem anderen Projekt versuche ich, Umgebungsgeräusche eines urbanen Umfelds durch einen zeitlichen kompositorischen Plan unter Einsatz von akustischen Cues so gut wie möglich zu konstruieren und dadurch eine verzerrte, entfremdete Realität zu erzeugen.
In vielen dieser Arbeiten ist mir dabei das Bewusstmachen des Klangs, der uns umgibt und den wir stetig erzeugen, ein wichtiges Anliegen.
Das Arbeiten mit Clicks, das Arbeiten mit dieser Technik, wird leider allzu oft als unmusikalisch empfunden – als „antimusikalisch“. Bei einem meiner Vorträge wurde diese Technik gar als Untergang der Musikalität bezeichnet, dabei erzeugt doch diese spezielle Umsetzung eine Vielzahl von neuen, spannenden musikalischen Möglichkeiten.
Und: Wurden die elektronische Musik und viele andere musikalische Neuerungen nicht auch einst als Untergang der Musik gesehen?
Peter Jakober
Peter Jakober wurde 1977 in Österreich geboren und lebt in Wien. Von 1998 bis 2006 studierte er Komposition bei Georg Friedrich Haas und Gerd Kühr. Seine Werke wurden bei zahlreichen renommierten Festivals aufgeführt. Sein Stück "Saitenraum 2" für 60 Streicher eröffnete Wien Modern 2023 in allen drei Sälen des Wiener Konzerthauses gleichzeitig. Das Musiktheater Populus wurde 2018 mit dem Johann-Joseph-Fux-Opernkompositionspreis ausgezeichnet. Musik für Performance. Jakober erhielt den Erste Bank Kompositionspreis 2015 und war Stipendiat der Akademie Schloss Solitude.
Artikelthemen
Artikelübersetzungen erfolgen maschinell und redigiert.