Wovon man sprechen kann, darüber soll man nicht singen?

Eine Grundmoräne aus erratischen Gedanken und manierierten und manieristischen Mikro-Predigten (in Textform) die von Text, Musik und Theater handeln.

Georg Nussbaumer Georg Nussbaumer
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Words are the most uncertain symbols, devised by human beings for communication. (Kitasono Katue, A Note on Plastic Poetry, 1966)

Am Beispiel des Küchenradios — musica vs. lingua

Wenn man Sprache schon lange nicht mehr versteht (weil zu leise, und die Umgebung zu laut), ist Musik noch lange zu verstehen – auch wenn nur Reste aus dem Lärm ragen (das kleine, zirpende Radio gegen den gewaltig orgelnden Geschirrspüler) wie die Rücken eines versunkenen Gebirges.

*

verlässt ein text sein buch, wird er meist peinlich, obwohl er das in seinem buch noch gar nicht gewesen wäre. da hilft auch singen nicht.

wagners lallen&wallen ist/wäre als buch peinlich, ist im musiktheater jedoch der einzige nicht peinliche text von allen (weil gerade wegen wallenden lallens verstehbar).

jedem text (im sogenannten ‚landläufigen‘ sinn) ist prinzipiell zu misstrauen, aufs höchste – so wie jeder musik (wenn der text aus buchstaben besteht und die musik aus noten (oder etwas ähnlichem)). alles scheinbar sinn machende, diesen aber in wahrheit vortäuschende, ist geradezu vorsätzlich bösartig (?) und nichts als missbrauch von (meist) ohnehin nicht beherrschter sprachlicher und musikalischer syntax und semantik für die absonderung von (meist) larmoyanten allgemein-plattitüden, verquirlt mit privatmährchen.

essbar aber ohne nährwert

wenn ‚text’ ein gewebe, einen undurchdringlichen und nie entwirrbaren klumpen meint, eine wenn auch vielleicht unschöne textur, ein gewölle, das in alle sinneskanäle einrinnt, aber nicht enträtselt, entastet oder nur entästelt werden kann: dann kann man sich freuen und muss keine angst haben.

ungenießbar aber höchst nahrhaft

und nun, erheblich besser formuliert von David Foster Wallace:

Kunst ist schließlich Kommunikation, und ein „persönlicher Ausdruck“ ist filmisch erst dann interessant, wenn das Ausgedrückte im Zuschauer eine Saite zum Klingen bringt. Der Unterschied zwischen dem Erfahren einer Kunst, die als Kommunikation glückt, und einer Kunst, die misslingt, entspricht dem Unterschied zwischen dem Sex mit einem Menschen und dem Beobachten dieses Menschen beim Masturbieren.1

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Georg Nussbaumer: "Flügelengel"

Opera Vacui

Ich suche ein Wort, eine Bezeichnung für Musiktheater wie ich es mir vorstelle. Es sollte einen eigenen Begriff geben – nicht Musik + Theater. Ein Wort, das etwas sagt und dadurch alles freilässt und somit in Gang setzt.

Es soll stehen für: einen kinetischen Vorgang, der sich in alle Sinne der Wahrnehmenden hinein manifestiert, von allen Sinnen abgetastet, gelesen werden kann.

Wobei es darin NICHT darum geht, ein Sträußchen aus mehreren parallelen Vorgängen zu binden (die interdisziplinäre Behauptung), sondern darum, dass EIN Vorgang auf allen Sinnesebenen zugänglich ist, spielt, bereitsteht, weil es in seiner ‚Natur‘ liegt und gar nicht anders geht – das schließt nicht aus, dass auch Text an einigen Tentakeln oder Öffnungen dieses Vorgangs zu Tage treten kann, er liegt aber nicht zu Grunde2 und es ist ausserdem nicht ausgeschlossen, dass, wenn man nicht zusieht oder hinriecht, man eben hört oder spürt. Wer nicht hören will, darf sehen.

Opera Vacui wäre ein vorläufiger Behelfsbegriff dafür.

Die Opera Vacui hat keine Absichten und keine Bedeutungen, die mit Klängen und Bildern kostümiert werden3. Sie ist geschichten- und geschichtslos, ein leeres Blatt Papier, bevor jemand drauf schreibt: „ich erzähle euch jetzt…“4 – denn genau hier spielt die Opera Vacui schon nicht mehr mit, dieser Zettel hat ausgeträumt.5

Am Beispiel des Baggers — deus ex machina

Ein Bagger hebt eine Grube aus, vielleicht an einem Sommerabend. Den Aushub schüttet er neben der Grube zu einem Kegel auf. Publikum steht, sitzt, wandelt – alle werden in Ruhe gelassen.

Man (als Besucher:in) sieht und spürt dabei den Schotter- oder Erdkegel, der sich langsam vergrößert, man nimmt das tiefer werden der Grube wahr, man hört den Motor und riecht den Diesel, Lärm und Gestank, man sieht die Abgase aufsteigen, man beobachtet die Selbstsortierung der Steine beim Aufschütten, die Schwerkraft und den Klang in Allem, den Raum, das Licht und die Schatten, die sich durch den Lauf der Sonne und durch die kontinuierliche Modifizierung der Landschaft durch den Bagger verändern, man fühlt die Hitze der Maschine, die Kühle aus dem geöffneten Boden, den eigenen Körper im Raum, Schwere oder Kraft, Trauer oder Freude – in welcher Hülle (oder mit welchem Kern) auch immer man beiwohnt. Eingekleidet in diese mitgebrachte Stimmung, die sich vielleicht verändert, beobachtet man die Person am Bagger, die diesen Aushub und die Aufschüttung vollzieht, ihre Konzentration und Freude daran. Vielleicht hört sie in ihrem Kopfhörern Musik oder bekommt einen Anruf, man sieht ihn sprechen. Am Baggerarm steht vielleicht KOMATSU – hier ist sogar der Text. Es dämmert langsam und die Baggerscheinwerfer fluten die Grube. Wirre Insektenkometen und Dieselschwadennebel.

Bislang die subjektive und vermutete Beschreibung einer Opera Vacui, die aus einer nicht nur scheinbar simplen Anweisung entsteht:

„Hebe eine quadratische Grube mit ebenem Boden möglichst tief aus und kippe den Aushub neben der Grube an einem immer gleichen Punkt aus, so dass ein nach und nach immer größerer Kegel entsteht. Das Stück ist vorbei, wenn die Schaufel die Spitze des Kegels nicht mehr erreichen kann und der Bagger am Boden der selbstgegrabenen Grube steht.“

Da muss nicht stehen wann wie was gemacht wird, wie der ‚Ausdruck’ ist oder die Absicht. Absicht und Arbeitsschritte bedingen sich gegenseitig, zwingend und einfach. Es geht nicht darum, die Ohren zu öffnen, die man in ein Konzert mitbringt.

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Georg Nussbaumer: "bogenübung" Kaunas 2023

Aber worum geht es? (FAQs)

  • das Sprichwort von der Grube, die man anderen gräbt?
  • eine Meditation über Materie und Leere?
  • über Stoff und Form?
  • die Darstellung eines Massengrabs?
  • eine Baugrube für ein Opernhaus?
  • ein mutwilliger Flurschaden, an Flora und Fauna?
  • die Geräusche des Baggers, der Steine?
  • das emotionale Leben des Baggerfahrers?
  • Spuren?
  • eine geometrische Übung, die einen leeren Quader und einen vollen Kegel zurückläßt, wobei der Kegel die Mutter des Quaders ist und der Quader der Vater des Kegels?
  • die Erwartung einer unverhofften Ausgrabung?
  • ist das Musiktheater, Komposition, Text, Theater?

Antwort

  • nein!

Es wird damit gar nichts gesagt oder behauptet, die Bedeutungen (und ab hier gerne sogar Geschichten) entstehen nur durch die Erfahrungshintergründe der einzelnen Menschen, die dabei sind, oder aber auch nur davon lesen oder hören6.

Divers, so wie der Hase Auferstehungssymbol, Schädling, Sonntagsbraten Fruchbarkeitsmeister oder kuscheliger Liebling und noch einiges mehr sein kann. Solange er so ambivalent ist, der Hase, ist er interessant. Ist er Auferstehungshase oder Hasenbraten, weiß man zwar woran man ist, aber er ist seinen Weg schon gehoppelt – es gibt nichts mehr zu glotzen!

Dem Baggerfahrer (ich stelle mir einen Mann mit Pianistenhänden und Vokuhila vor) bleibt seine Virtuosität erhalten, auch die zu beobachten ist ein Vergnügen. Niemand schreibt vor, in welchem Winkel die Schaufel zu sein hat, wo ihr Schatten hinfallen soll oder gar wann er wieviel Gas geben soll, um einen bestimmten Sound zu generieren. Der Kern der Sache ist gepflanzt und nicht die Baumkrone, allen bleibt ihre Würde erhalten, kein Text nagelt etwas fest. Musiktheater, das eine Geschichte erzählen will, ist um nichts besser als Propaganda, nicht besser als Festnageln7. Nur Musiktheater, das nichts will und damit Geschichten ermöglicht und freisetzt, generiert einen freien Raum – und das ist alles, was wir brauchen sollten, auch wenn es ein anstrengendes Habitat ist.

*

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Georg Nussbaumer: JEDER HASE EIN KÜNSTLER

Zwei unangenehme Allgemeinplätze — musica ex humptata

#1
„Dieser Text ist musikalisch!“ (wobei damit Literatur gemeint ist, landläufig). Gemeint ist damit ohnehin ‚musikantisch– ‘ etwas völlig anderes und eigentlich vernichtendes für den als ‚musikalisch’ gelobten Text, weil es die willfährige Wiedergabe von Erwartbarem in wohligem harmonischem, erwartbarem Rhythmus meint. Mit Vokalwiederholungen – was man sich halt so unter Musik und Wiegenliedern vorstellt.

#2
Eine der dümmsten und perfidesten Äußerungen überhaupt: „Musik ist eine Weltsprache!“ – ein Stehsatz, penetrant wie ein Stehgeiger und unnötig wie die Vergoldung von dem Strauss im Wiener Stadtpark. Als wenn es ein Medium gäbe, das die Menschheit und ihre Sprachen und Dialekte in einen vorbabylonischen Zustand versetzen würde, einfach so. Blanke Währung ist diese Behauptung allerdings für Wunderkindhändler in ihren Pädosakkos aus Krokoimitat. Dazu ‚Espandrilles‘.

*

Die Geschichte von Luft und Feder

wer text will muss schreiben (federn und teeren)

Wenn Herr J.S. Bach seinen Musiktext geschrieben hat, benutzte er dazu eine Feder. Und Tusche. Eine Gans, konkret ihre aus ihrem Arm8 gerupfte Schwungfeder, war Überbringerin der Konstruktion (ihrer Abstraktion in Form von Notenzeichen) vom Komponistenhirn aufs Papier, wo sie dann, sobald die Tusche getrocknet war, zur Botschaft für Instrumentalist:innen wurde. Es hat getuscht! Sepiabrauner Tintenfischsaft. Aber dann kommt die (vom Musikmollusken verschlungene) Gans wieder: Gänsekiele schreiben ein zweites Mal, nun in Luft. Indem sie die Saiten im Cembalo (das dem späteren Flügel seine Form voräfft) anzupfen/anreissen, setzen sie das zuvor geschriebene wieder frei. Es verfliegt sofort, gänsefrei.

Wohl ein einzigartiges Zeitfenster der Musikgeschichte, in dem Schreibgerät und Musikgerät in ihrem zentralen ‚Bauteil‘ (im Getriebe, wo die Übersetzung stattfindet) identisch waren, wobei sich beim Nachfolger sowohl des Cembalos als auch der Gänsefeder die Verwandtschaft in Klaviermechanik und Schreibmaschine fortsetzt. War das Cembalo ein flatternder, in eine Kiste gesperrter Icarus, so verrichtet nun im Klavier Thor seine Hämmerarbeit – allerdings noch lange nach einem weiterhin mit der Feder geschriebenen Plan.

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Georg Nussbaumer: NOBODADDY IS PERFECT

Weitere Akte für eine Opera Vacui

Der Wind aus den Büchern
Beim daumenkinoartigen Blättern in Büchern entsteht ein winziger Wind. Aus Text, vielleicht aus Notentext (der die Existenz des Buches begründet) wird Musik (bewegte Luft). Eine leise Oper, die eine Kerzenflamme zum Flackern bringen kann.

Schüsse aus Büchern
Wählen Sie ein Buch aus, Hardcover. Trivialliteratur oder hohe – jedenfalls eines, in dem Schüsse zu erwarten sind. Lesen Sie, still. In dem Moment, in dem im Text ein Schuß fällt, klappen Sie das Buch plötzlich und möglichst laut zu. Dann suchen Sie die Stelle wieder und lesen weiter – bis zum nächsten Schuß.

Ritual
Die Energy-drinker tragen ihre Dosen langsam und andächtig herum wie kurze aber dicke Erstkommunionskerzen – mit abgespreizten kleinen Fingern und pasolineskem Nonnenblick. „Introibo ad altare Dei!“ (James Joyce oder Papst Locherl zugeschriebenes Küchenlatein). 4 Gopniks sind ein Adventkranz mit 3 Streifen.

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Georg Nussbaumer: Zukunftsschrei(b)maschine

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Ursprünglich erschienen in: TEXT AS SOURCE AND MATERIAL IN CONTEMPORARY MUSIC THEATRE, hrsg. von Christa Brüstle, Wien - London - New York 2023 (Studien zur Wertungsforschung 65), ISBN 978-3-7024-7793-6

  • 1

    David Foster Wallace: Der Spaß an der Sache, S. 667

  • 2

    nicht zuletzt, weil Text das nicht kann.

  • 3

    der übliche szenografische Mummenschanz.

  • 4

    wenn ein Ich (das wichtige ICH) was von sich erzählen will, kann es das ja tun – aber bitte nicht einem Publikum; oder sogar mit Musik, oder gar Theater.

  • 5

    dies hat nichts mit Zen zu tun, sondern ist eine alte bäuerliche oberösterreichische Haltung – siehe Bruckner.

  • 6

    die Vorstellung der Vorstellung genügt schon.

  • 7

    eine gut bekannte Übung seit über 2000 Jahren.

  • 8

    dem rechten?

Georg Nussbaumer

Georg Nussbaumer, geboren 1964 in Linz, lebt in Wien. Nussbaumer gilt als virtuoser Gesamtkunstwerker, dessen Arbeiten sich zwischen Komposition, Installationskunst, Performance und Theater bewegen. Er arbeitet mit hochspezialisierten Performer:innen und Musiker:innen genauso selbstverständlich wie mit Bogenschützen, Apnoetauchern, einem Motorradclub oder Hundertschaften von SängerInnen ländlicher Laienchöre. Seine großformatigen Arbeiten wurden u.a. gezeigt bei: Donaueschinger Musiktage | Wien Modern | Steirischer Herbst | Berliner Festspiele – Maerzmusik | Bregenzer Festspiele – Kunst aus der Zeit | soundscape Vilnius | Ring Festival Los Angeles | radialsystem Berlin | KunstFestSpiele Herrenhausen | Opera Dagen Rotterdam | Kunstfest Weimar | operadhoy Madrid | Philharmonie Luxembourg | Festival Klangbasel | O.K – Offenes Kulturhaus OÖ | Höhenrausch Linz | Beethovenfest Bonn | Gasteig München | u.v.a.

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Originalsprache: Deutsch
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