tingles & clicks - ein hybrides Musikprojekt

tingles & clicks will eine in den Jahren der Corona-Epidemie verlorengegangene Körperlichkeit in einem Musikprojekt virtuell und physisch aufleben lassen. Herausragende Musiker*innen schaffen Sound Environments und Musik, die quasi-taktile Erlebnisse hervorrufen.

Fränk Zimmer Profilfoto Fränk Zimmer
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Schutzmaske tragen, Sicherheitsabstand einhalten, soziale Kontakte reduzieren und so weiter. Social-Distancing-Anweisungen haben uns von Anfang an durch COVID-19-Gesundheitskrise begleitet. Zwischenmenschliche Kontakte wurden zugunsten des Schutzes des Individuums zurückgedrängt. Zahlreiche Festivals mussten sich mit strengen Sitzordnungen, Impfpasskontrollen und Genehmigungsverfahren auseinandersetzen; der reale Raum bot für Musiker*innen nur mehr sehr eingeschränkte Auftrittsmöglichkeiten. In der Folge haben sich musikalische Aktivitäten in den virtuellen Raum verlagert. Hier wurden Zoom- und Skype-Konferenzen für Auftritte genutzt, andere Veranstalter haben Auftritte ohne Publikum live oder on demand gestreamt.

Das ORF musikprotokoll als Experimentierfeld

Ich arbeite als Producer und Co-Kurator für das ORF musikprotokoll, das älteste österreichische Festival für zeitgenössische und experimentelle Musik. Im Jahr 2020 wollten wir eine neue Präsentationsform für experimentelle Musik finden, die das WWW nutzt und die Möglichkeiten dieses elektronischen Raums auslotet.

Neben der Vergabe und Aufführung von Kompositionsaufträgen hat das musikprotokoll seit 2012 immer wieder Projekte einer alternativen Aufführungspraxis entwickelt. So etwa das Karussellprojekt Let's merry-go-round!, das Vokalprojekt Die Logik der Engel oder Homages, eine mobile Hörausstellung. Allen Eigenproduktionen war gemeinsam, dass wir eine technische Umgebung und zum Teil aufwändige Aufführungssettings vorbereiteten und dann Komponist*innen einluden, diese zu „bespielen“. Diese Vorgangsweise haben wir auch bei tingles & clicks beibehalten.

tingles & clicks – das Konzept

In tingles & clicks wollten wir die in der Zeit der Pandemie durch Schutzmaßnahmen verlorengegangene Körperlichkeit vermittels Auftragskompositionen, die sich auf eine quasi-taktile Online-Erfahrung konzentrieren, erforschen.

Inspiriert von einer musikalischen Haltung des minimalen und abstrakten Klangeinsatzes, der Verwendung von Field Recordings und mit Blick auf die ASMR-Bewegung (Autonomous Sensory Meridian Response), sollten räumliche und intime Hörerlebnisse an jenem Ort entstehen, an dem sich viele Menschen während der Pandemie aufhielten oder aufhalten mussten: in ihren eigenen vier Wänden.

Wichtig war uns, dass die User*innen der tingles & clicks-Projektwebsite Sound Environments mit ihrem Körper frei erkunden und auch mit ihrem Körper durch diese navigieren konnten.

Das eigentliche Klangmaterial lieferten die Komponist*innen. Ihnen wurde ein Tool zur Verfügung gestellt, mit dem sie Klangobjekte im virtuellen Raum platzieren und deren Verhalten definieren konnten.

Klang-Raum-Klang

Musik wird oft als Zeitkunst bezeichnet. Genauso wichtig ist aber, wie wir Klang im Raum wahrnehmen – nah und fern, links und rechts, oben und unten. In tingles & clicks befanden sich die User*innen in einem primär akustischen Raum, in dem Klangobjekte – fern, nah, oben unten – angeordnet waren. Der Klangraum reagierte dabei auf die Körperbewegungen der User*innen, sie hörten nicht nur "räumlich", sondern erzeugten diesen Raum in gewisser Weise mit.

Zentral waren bei diesem Projekt – wie auch bei jeder anderen Auftragsarbeit – der künstlerische Ansatz, das Konzept und natürlich das Klangerlebnis an sich. tingles & clicks war also in erster Linie ein Musikprojekt. In der Folge vergab das ORF musikprotokoll Auftragskompositionen an eine Reihe spannender Komponist*innen experimenteller Musik: an Natasha Barrett, Andrea Sodomka, Marco Donnarumma, Svetlana Maraš, kӣr, Ulf Langheinrich und Cam Deas.

Das Projektkonzept zu tingles & clicks und die grafisch reduzierte Oberfläche stammen von Fränk Zimmer. Mit Hilfe einer vom IEM (Institut für Elektronische Musik und Akustik) in Kooperation mit musikprotokoll entwickelten Audioengine mit Face Tracking konnten User*innen die Klangumgebungen der Komponist*innen erkunden. Hauptakteure am IEM waren Robert Höldrich als IEM-Koordinator und die Entwickler Matthias Frank, Franz Zotter und Lukas Gölles.

Das Setting

Die User*innen benötigen einen PC oder Laptop, eine Webcam, einen Internetzugang und einen Kopfhörer. Also genau die aus dem Homeoffice bekannte Ausstattung. (Die leichte Zugänglichkeit zu diesem Netzprojekt war uns wichtig.) Man gibt die Projektadresse in den Browser ein und ist mittendrin.

Darstellung Webcam Tracking X-Achse

Die User*innen sitzen vor ihren Bildschirmen, tragen Kopfhörer und haben ihre Webcam eingeschaltet. Sie rufen die Website von tingles & clicks auf. Nun wird die Position des Kopfes auf der x- und y-Achse – also links-rechts und vorne-hinten – von einer Webcam getrackt. 

Darstellung, Tracking Sektoren

Der Erfassungsbereich der Webcam ist zugleich der virtuelle Klangraum. Er ist in drei sich nicht überlappende Sektoren unterteilt (A1, A2, A3). Jedem Sektor wird ein Ambient-Sound zugeordnet.

Darstellung, Webcam Tracking mit Klangobjekten

Bis zu 6 Klangobjekte werden über die von der Webcam erfasste Fläche verteilt. Die schwebenden Klangobjekte sind unsichtbar und nur in diesem virtuellen Klangraum mit seinen Ambient-Flächen hörbar. Was, wie und wo zu hören ist, entscheidet das Publikum hörend und navigierend. Veränderungen der Kopfhaltung – Neigen, Drehen … – erlauben es den User*innen, sich in diesen Klangräumen zu bewegen.

Obwohl das Projekt auf den ersten Blick sehr nach einem technologischen Experiment aussieht, ist es genau das nicht. Natürlich birgt die Klangsteuerung über Gesichtserkennung für sich genommen interessante Möglichkeiten. Aber nicht zuletzt haben Verhaltensregeln, wie sie uns durch Covid-19 auferlegt wurden, dieses Wechselspiel von Nähe und Distanz, in dieser Technologie eine Entsprechung. In unserem Fall macht Face Tracking den Körper zum Navigationswerkzeug.

Oberfläche Interfaces - tingles and clicks

Zusätzlich zu den Audiodateien liefern die Komponist*innen eine .json-Datei, in der folgende Parameter definiert sind:

  • Position des zu platzierenden Klangobjekts.
  • Beschaffenheit des Raumes (klein und trocken oder groß und hallig).
  • Fade-Zeiten zwischen den Ambient-Sektoren.
  • Variabel, um zu definieren, wie schnell die Amplitude der Quelle mit der Entfernung abnimmt.

Das eigentliche Klangmaterial besteht aus 3 Stereo-Ambient-Audiofiles und 6 Klangobjekt-Mono-Audiofiles.

Es folgen 3min aus vier tingles & clicks /graz Klangumgebungen:

Audio file

Eine Ausschnitt aus einer Klangumgebung Beachcomber (2020) von Natasha Barrett.

Audio file

Ein Ausschnitt aus der Klangumgebung Tiefblau und Kristallweiß – Die Farben der Distanz (2020) von Andrea Sodomka.

Audio file

Ein Ausschnitt der Klangumgebung Milieus & Rhythms (2020) von Cam Deas.

Audio file

Ein Ausschnitt der Klangumgebung L'ampleur du souffle (2020) von Svetlana Maraš.

Vom virtuellen in den physischen Raum

Nachdem sich die pandemische Situation zu beruhigen begann, haben wir für das ORF musikprotokoll 2021 eine interaktive Installation im Grazer MUMUTH realisiert: tingles & clicks/ graz. Aus dem Ein-Personen-Erlebnis zu Hause wurde eine öffentliche interaktive Medieninstallation.

Auf Rollbrettern liegend, bewegen sich User*innen in 4 mal 4 Meter großen Feldern fort und werden dabei von einem optischen Multi-Cam-Trackingsystem erfasst.

Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit in der Käfer-Position der User*innen soll die Aufmerksamkeit für das Gehörte erhöhen. Im physischen Raum verhalten sich die Klangumgebungen wie beim Online-Projekt.

Video URL
tingles & clicks /graz

Ein über den Köpfen der User*innen montiertes Tablet ermöglicht die Auswahl einer der Kompositionen; das optische Feedback dient zur Orientierung im 4 x 4 m-Feld im realen Raum. Navigiert wird nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper. Die Art der Bewegung bleibt jedem selbst überlassen. (Einige Personen verharrten minutenlang in einer Position, andere bewegten sich schnell auf ihren Rollbrettern hin- und her und verfolgten die klanglichen Änderungen.)

Folgende Komponist*innen wurden bei der tingles & clicks/ graz Variante im Grazer MUMUTH präsentiert: Andrea Sodomka, Svetlana Maraš, Marco Donnarumma, Natasha Barrett, Karlheinz Essl, Martina Claussen und dem Kollektiv Lain Iwakura, Korin Rizzo, Leonie Strecker, Nico Mohammadi.

Bei tingles & clicks handelt es sich um eine Fortsetzung der mehrjährigen ORF-musikprotokoll-Reihe music for bodies in motion, in der Hörer-Position und Umgebungen als Parameter des Hörens zur Disposition stehen. tingles & clicks ist eine Auftragsproduktion vom ORF musikprotokoll in Kooperation mit dem Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz – IEM und von SHAPE – Sound, Heterogeneous Art and Performance in Europe. Gefördert durch das Programm „Creative Europe“ der Europäischen Union. Svetlana Maraš, kӣr und Cam Deas sind SHAPE Artists 2020.

https://musikprotokoll.orf.at/tingles-and-clicks

Fränk Zimmer

Fränk Zimmer ist Medienkünstler, Kurator und Festivalmacher. Nach einer Ausbildung zum Nachrichtentechniker in Luxemburg studierte er Musikwissenschaft in Graz und Wien. Er setzt Open Source Software und Hardware in Klang- und Medieninstallationen sowohl im öffentlichen als auch im kunstspezifischen Raum ein. Zimmer arbeitet auch als Produzent und Co-Kurator für das ORF musikprotokoll, ein Festival für zeitgenössische und experimentelle Musik. In den letzten fünf Jahren hat er sich auf 3D-Audio und die Entwicklung interaktiver, webbasierter Hörumgebungen konzentriert. 2023 gründete er „Sounding Future“, eine Online-Plattform, die sich aktuellen technischen und künstlerischen Entwicklungen in Musik und Kunst widmet.

Originalsprache: Deutsch
Artikelübersetzungen erfolgen maschinell und redigiert.

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