Social Experimental Audio

Praktisch unbemerkt vom allgemeinen Milieu zeitgenössischer Kunstpraktiken und auch von den meisten konventionellen Musikbereichen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein weltweiter revolutionärer Wandel im vielgestaltigen Universum der kreativen Arbeit mit Klang vollzogen.

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Dieser 2019 verfasste Aufsatz enstand für den Katalog der Ausstellung mit dem ursprünglichen Titel "AUDIOSPHERE: Social Experimental Audio, Pre- and Post-Internet", organisiert vom Reina Sofía National Museum and Art Center (Madrid, Spanien) im Jahr 2020 und kuratiert von Francisco López.

Verwoben mit heute bekannten Feldern wie Klangkunst, experimenteller Musik, Noise oder Electronica – aber weit darüber hinausgehend – und sich weitgehend unvorhersehbar und außer Kontrolle ausbreitend über ein kreatives Territorium –– mit "unterirdischen", unorthodoxen, intuitiven, paradoxerweise populär-minoritären und abenteuerlichen Definitionsmerkmalen, handelt es sich um einen Prozess von gigantischem Ausmaß, der auf eine kulturelle Sozialisierung der kreativen Arbeit mit Klang hinausläuft.

Diese Sozialisierung ist sowohl technischer und ästhetischer als auch organisatorischer und philosophischer Natur. Es handelt sich dabei nicht um eine "Demokratisierung" – ein Begriff, der in gewisser Weise eine Absicht und eine Richtung bei der Ausbreitung der Regierungsgewalt impliziert –, sondern dieser Prozess ist weitgehend die unbeabsichtigte Folge einer Ansammlung ungerichteter und unkontrollierter Faktoren im Zusammenhang mit technokulturellen Veränderungen und Marktkräften, die weit über die rein kreative künstlerische Arbeit hinausgehen. Viele Tausende von Künstlern und anderen Kunstschaffenden weltweit, von denen die meisten praktisch unbekannt sind, sind als relevante und entscheidende Akteure an diesem Wandel beteiligt. Dies ist in der Tat die Manifestation einer grundlegenden Neudefinition jener Figur dessen, die wir heute als Audio-Künstler oder Audio-Schöpfer bezeichnen könnten, sowie der Voraussetzungen zur Entwicklung einer solchen soziokulturelle Kategorie und  der Kriterien für deren Akzeptanz. All dies natürlich ohne die Absicht, normativ oder definierend zu werden: Sicherlich identifizieren sich viele dieser Audiokünstler aus guten Gründen und mit gutem Gewissen weder mit der Figur des "Musikers/Komponisten" (auch wenn sie "experimentell" ist) noch mit der des "Künstlers" oder "Klangkünstlers".

Dieser Sozialisationsprozess hat zu bedeutenden Umgehungen und operativen Alternativen zu den traditionellen Organisationskräften des Akademischen und des Industriellen/Kommerziellen geführt. Dazu gehören die zahlreichen "unabhängigen", "alternativen" und "Underground"-Kollektive, Einzelpersonen und nicht-kommerziellen Mikrolabels, die als Konstellation sehr kleiner Einheiten für die Veröffentlichung, den Vertrieb, die Präsentation und den Austausch weitgehend unkontrollierter kultureller Produkte fungieren. Diese Vergesellschaftung hat auch konstruktive Formen der Meritokratie (im besten Sinne des Wortes) und der Intuition gefördert, die wenig oder gar keine Zertifizierung durch irgendeine künstlerische oder normative Instanz benötigen, wodurch sich der Status des Rechts auf Schaffen sowohl in Bezug auf die Präsentation als auch auf die Anerkennung drastisch verändert hat. Diese soziale und politische Veränderung des Rechts zu kreieren – nicht nur, um die Praxis zu vollenden, sondern auch, um einen kulturellen Status zu beanspruchen – ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Verschiebungen der letzten Jahrzehnte in der kreativen Arbeit im akustischen Bereich. Dennoch bleibt sie meist unerkannt und wird unter dem Druck oberflächlicherer Paradigmen übersehen – seien es jene der  mittlerweile traditionellen "neuen Medien"/"neuen Technologien" oder die der klassischen chronologischen Perspektive auf die vielfältigen Geschichten der Klangkunst und experimentellen Musik.

In krassem Gegensatz zu den meisten kreativen Praktiken hat dieser Bereich der sozialisierten Audiokreativität ein Verhältnis von Künstler zu Publikum von praktisch 1:1, was auf ein extrem aktives Engagement seiner integrierenden Gemeinschaft zurückzuführen ist. In gewisser Weise läuft dies auf eine neuartige Verschmelzung oder eine endgültige Verwischung der Grenzen der klassischen Figuren des "Amateurs" und des "Profis" hinaus. In ähnlicher Weise haben die Begriffe "naiv" und "erfahren" einen dramatischen Wandel sowohl im sozialen als auch künstlerischen Wertesystem und in ihrer Wertschätzung in diesen Gemeinschaften erfahren, da die Ästhetik des Ungewöhnlichen, des Uninformierten, des Unerwarteten und der unbeholfenen Hybridisierung oder des "Lo-Fi" zu festen, geschätzten und sich ständig weiterentwickelnden Genres geworden ist.

Kurz gesagt, diese künstlerische und kulturelle Sozialisierung der Audioproduktion hat unter anderem neue kreative Mechanismen, Strategien, Wertesysteme, Ästhetiken, Netzwerke und Neigungen hervorgebracht. Angesichts des Ausmaßes dieses Prozesses ist eine entscheidende Feststellung besonders hervorzuheben: Obwohl sich diese Sozialisierung mit dem Aufkommen des Internets und der Hyperkommunikationsgesellschaft natürlich ausgeweitet und beschleunigt hat, begann sie in Wirklichkeit lange vorher und hat ihre Wurzeln und Ursachen in früheren technokulturell-sozialen Situationen. Insbesondere geht sie im Wesentlichen auf eine Kristallisierung des Geistes der Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre zurück, die ab den 1980er Jahren durch eine beschleunigte und massive Vergesellschaftung von Werkzeugen – sowohl technologischer als auch ethisch-konzeptioneller Art – der Kreation, Kooperation, Selbstbearbeitung und Verbreitung stattfand. Werkzeuge, die so vielfältig, überraschend einfach und sogar unerwartet sind wie der Fotokopierer, die Audiokassette, die populären elektronischen Instrumente (Synthesizer, Sampler, Effekte), das Heimstudio und später der Personal Computer. Und natürlich auch das Post-Punk- und Do-it-yourself-Ethos des intuitiven, autodidaktischen und intuitiven Amateurs als zentrale Figur, Protagonist und Katalysator der neuen Audio-Kreation in einem neuen öffentlichen Raum, der gleichzeitig populär und unterirdisch ist, mit Mikro-Gemeinschaften, die verstreut, aber funktional und emotional miteinander verbunden sind.

AUDIOSPHERE: Social Experimental Audio, 2020 - Reina Sofía National Museum and Art Center (Madrid, Spain)

Was dieser Bereich, den ich Social Experimental Audio nenne, im Wesentlichen hervorheben und vorschlagen will, ist die enorme Relevanz und die dringende Notwendigkeit einer sozialen und technokulturellen Geschichte der Klangerzeugung. Anstelle von (oder zusätzlich zu) Chronologien und Kompendien von Namen und Technologien, eine Geschichte von Prozessen, Mechanismen, Integrationen und kollektiven Zusammenschlüssen. Eine Perspektive, die Vergesellschaftung als ein Kapitalphänomen der jüngeren Geschichte der experimentellen Audiokreation betrachtet.

Mein Vorschlag, in dieser Richtung voranzukommen, zielt darauf ab, die meiner Meinung nach wichtigsten Prozesse und Bereiche der Sozialisierung der Audiokreation zu identifizieren und zu skizzieren. Jeder von ihnen kann gleichzeitig als eine weitreichende übergreifende Frage und als ein Gebiet der Diskussion verstanden werden, das mehrere kritische Aussagen enthält, die – und das ist meine Absicht – als implizite und offene Fragen interpretiert werden können.

1 - Genealogien

Die vorherrschenden Diskurse über die Geschichtsschreibung von Klangexperimenten (wie sie in den Bereichen der sogenannten Klangkunst und der experimentellen Musik im weitesten Sinne verstanden werden) zeichnen ein klassisches monophyletisches Bild (ein gemeinsamer Ursprung) mit "Pionieren" und "Avantgarde(n)", die scheinbar die Referenzen und die genealogische Erklärung unserer kreativen Gegenwart in diesem Gebiet liefern. Während die historische Relevanz der üblichen Großfiguren (Luigi Russolo, John Cage etc.) unbestritten sein mag, lassen sich sowohl die Entwicklung der letzten Jahrzehnte als auch der gegenwärtige Stand des Klangexperiments in vielen ihrer entscheidenden Merkmale mit diesen Referenzen allein nicht erklären oder richtig verstehen. Die oft wiederholten Chronologien von Künstlern und Technologien, von den gängigen bis zu den obskuren, sind zwar korrekt, anschaulich und natürlich interessant, bieten aber keine substanzielle und überzeugende konzeptionelle Grundlage (in einigen Fällen sind sie sogar kontraproduktiv), um kulturelle Mechanismen und ultimative Antriebskräfte zu identifizieren oder die Entwicklung dieses kreativen Bereichs zu verstehen. In Abgrenzung zu elitären Archetypen wie dem des bürgerlichen Künstlers oder dem des Kenners "ernster" Musik, gibt es bereits mehrere Generationen von Künstlern, die in einem Milieu der Populärkultur (Rock, Pop, Punk, Electronica usw.) aufgewachsen sind und von diesem genährt wurden, was ihre Perspektiven entscheidend geprägt und informiert hat, wenn sie sich in weniger populäre (oder, wie wir sagen könnten, unterirdisch populäre) Gebiete wagen. Eine große Zahl von Musikschaffenden (in vielen Bereichen die Mehrheit) begann ihre Arbeit und entwickelte sich in ihren Klangexperimenten – und tut dies auch heute noch – durch den bloßen Kontakt und die Interaktion mit verschiedenen Arten von haushaltsüblichen, handelsüblichen technischen Geräten, die für sie zugänglich waren und sind. Ohne formale oder strukturierte Ausbildung und ohne Kenntnis eines historischen Kontextes. Eine jungfräuliche und aufregende Mensch-Maschine-Begegnung ohne klare Regeln oder Absichten. Es ist daher an der Zeit, die vielfältigen Genealogien, die zweifelsohne polyphyletisch (mehrfachen Ursprungs) sind und den gegenwärtigen Bereich der Klangexperimente definieren, kritisch zu überarbeiten. Die Anerkennung und Analyse sowohl des Sozialen als auch des Techno-Kulturellen ist unerlässlich, um Ursachen, Mechanismen und treibende Kräfte der Evolution und Entwicklung dieses Bereichs zu klären. Kairologie anstelle von (oder zusätzlich zu) Chronologie; Sozialgeschichte und multiple rhizomatische Genealogien als Zeugnis der aktuellen Realität der Klangschöpfung.

2 - Netzwerke

Eines der Schlüsselelemente in Bezug auf das Aufkommen und die Entwicklung von Social Experimental Audio ist natürlich das der vernetzten kulturellen und sozialen Strukturen. Dies bezieht sich nicht nur auf den begrenzten Fall der aktuellen so genannten "sozialen Medien" und auch nicht ausschließlich auf die Post-Internet-Welt im Allgemeinen. Trotz der offensichtlichen Unterschiede in Bezug auf Umfang, Geschwindigkeit und technologische Basis sind kulturelle Netzwerke mit internationalem/globalem Charakter, dezentralisiert, ohne notwendigerweise einheitliche Richtung oder spezifische Ideologie, die neue koordinierte Kreationen und neue kollektive kreative Paradigmen hervorbringen, keine Folge des Internets, sondern haben sich vielmehr in einer Reihe früherer historischer Episoden entfaltet und manifestiert. Die vielfältigen Verästelungen des Post-Punk, die so genannte "industrielle Musikkultur" und die globalen "Home-Music-Network"- und "Kassettenkultur"-Szenen sind prominente und katalysierende Beispiele aus der Zeit vor dem Internet für die weit verbreitete Explosion sozialer experimenteller Audiotechnik. Diese vielgestaltigen internationalen Rahmen manifestieren sich nicht nur als Ausdruck des klassischen DIY-Ethos mit unabhängigen Netzwerken für Produktion, Veröffentlichung und Vertrieb, sondern auch mit dem weniger offenkundig anerkannten, aber ebenso allgegenwärtigen DIT ("Do-It-Together"), das die kreative Zusammenarbeit und Kooperation für gemeinsames Lernen und Produzieren vorantreibt. Über die reine Kommunikation hinaus ist eine grundlegende Folge dieser besonders aktiven Netzwerke die Entstehung einer verteilten und deinstitutionalisierten populären Tele-Akademie, die zum Hauptrahmen für das Lernen wird, sowie das Auftreten von relativ unkontrollierten Formen der Tele-Zusammenarbeit und Tele-Produktion. Sie alle sind durchdrungen von einer Etho-Ästhetik der Unabhängigkeit, der Selbstorganisation, des Unkommerziellen und des Alternativen. Von den Dystopien und Desillusionen der klassischen politischen sozialistischen Ideologie bis zu den kryptischen Manövern des Neokapitalismus, vom Analogen zum Digitalen, vom Postsystem zur elektronischen Kommunikation, vom klassischen Underground zu einer möglichen gegenwärtigen "Undercloud"; das soziale Klangexperiment kämpft, entwickelt und expandiert in diesen gesellschaftlich natürlichen Netzwerken.

3 - Mega-Zugänglichkeit

Einer der umwälzendsten und dennoch am wenigsten beachteten Prozesse der letzten Jahrzehnte ist die massive Vergesellschaftung kreativer Technologien (was gewöhnlich ungenau als "Demokratisierung" bezeichnet wird). Diese Vergesellschaftung ist weitaus relevanter als die klassische und vergleichsweise oberflächliche Abfolge von "analog-digital", "neuen Technologien" usw. und stellt einen Prozess der Vereinfachung, Atomisierung, Umverteilung und dramatischen Verbesserung der Zugänglichkeit zu gemeinsamen Werkzeugen für die Schaffung und Verbreitung dar. Unorganisiert, weitgehend eine unbeabsichtigte Folge kommerzieller Interessen, ohne ethisches oder politisches Projekt, vielgestaltig und schnell veränderbar, unkontrolliert in seinen Fort- und Rückschritten, hat dieser Prozess zu einer Mega-Zugänglichkeit geführt, die in der Geschichte des Schaffens ohne Beispiel ist. Das Klangexperiment ist wahrscheinlich der kreative Bereich, in dem sich dieses Phänomen am frühesten und mit größerer Intensität und Klarheit manifestiert hat: von den Kassetten-Heimstudios der 1980er Jahre bis zum persönlichen tragbaren Studio, das nur aus einem Laptop oder sogar nur einem Smartphone besteht; von der E-Gitarre bis zur Software zur Klangerzeugung/-transformation. Noch nie zuvor haben so viele Menschen die gleichen Werkzeuge für die Kreation und Verbreitung genutzt, deren praktische Anwendung praktisch sofort erlernbar ist. Diese explosive Kombination hat auf natürliche und unvermeidliche Weise zur Entstehung einer riesigen Anzahl von Audioschaffenden und Einheiten für die Verbreitung und den Austausch dieser Kreationen geführt, u. a. in Form von Mikro-Editionen (von Kassettenlabels bis zu Netzlabels), Mikro-Sendern (von Piraten- und Community-Radios bis zu individuellen Podcasts) und Mikro-Publikationen (von Fanzines bis zu Blogs). Die Mega-Zugänglichkeit ist somit zu einer qualitativen Verschiebung durch das quantitative Überschreiten einer kritischen Schwelle geworden. Im Bereich der Klangexperimente hat sie das synkretistische kreative Individuum hervorgebracht, das – begrenzt, bedingt, aber dennoch präsent wie nie zuvor – zur Selbstproduktion, Selbstveröffentlichung und Selbstverbreitung fähig ist.

4 - Cyborgisierung

Die Universalisierung und Sozialisierung der kreativen Technologien im Bereich der Klangexperimente hat zu einer Art naturalisierter Einbindung dieser Werkzeuge in das kreative Gewebe und die Praxis dieses Gebiets geführt. Die Unmittelbarkeit und Transparenz, die sie in der aktuellen technokulturellen Situation erlangt haben, stehen in krassem Gegensatz zu traditionellen Paradigmen wie dem klassischen Musikinstrument, ob akustisch oder elektronisch, oder dem –inzwischen ebenfalls klassischen – Aufnahmestudio. Im Gegensatz zu den sich wiederholenden Erzählungen über die Konzentration auf "neue Technologien" ist das Ergebnis dieser technokulturellen Realität das scheinbare Paradoxon einer konzeptionellen und wahrnehmungsmäßigen Auflösung dieser Werkzeugtechnologien; ihr Heideggersches Verschwinden, die Verflüchtigung des Instruments (mit Großbuchstaben, in seinem weitesten Sinne als Inbegriff musikalischer Klangerzeugung). Diese intime, ultimative und vielleicht optimale Integration ist das, was wir als Cyborgisierung im bestmöglichen anthropologischen Sinne verstehen könnten. Eine offensichtliche Konsequenz dieser Situation ist, dass, wenn jeder Zugang zu diesen Werkzeugen hat und sie bedienen kann, der traditionelle interpretatorische Virtuosismus seine Daseinsberechtigung in einer Welt der gemeinsamen und unmittelbaren Knöpfe, Regler und Trackpads verliert. Genau das ist der Reiz der gegenwärtigen Situation im kreativen Klangexperiment: eine Tabula rasa, in der alle Schöpfer des Kaisers neue Kleider tragen, was wiederum eine Neudefinition des Virtuosentums erfordert, vom Instrumentalen bis zum Geistigen.

5 - Ästhetogenetik

Der genealogische Eklektizismus, die neuen Formen der kreativen Interaktion und die verschiedenen Ebenen der Zugänglichkeit und der technologischen Integration im sozialen experimentellen Audio führen nicht nur zu strukturellen, organisatorischen oder ethisch-sozialen Veränderungen. Sie bringen zwangsläufig und glücklicherweise auch neue Ästhetiken hervor. Dies war in den letzten Jahrzehnten der Fall, oft in einem rasanten Tempo und mit den überschäumenden Schwankungen, die man von einem Phänomen der Populärkultur erwarten würde. Diese intensive Entwicklung und Diversifizierung von Ideen, Techniken, Perspektiven und Geschmäckern hat zu einer Fülle von Arten, Stilen, Kategorien, Genres und Subgenres von Klangexperimenten geführt, mit und ohne Bezeichnung: 'Industrial Music', 'Cassette Culture', 'Noise Music', 'Power Electronics', 'Drone', 'Ambient', 'Dark Experimental', 'Ritual', 'Isolationism', 'Plunderphonics', 'Turntablism', 'Laptronica', 'Lowercase', Lo-Fi", "No-Fi", "Lo-Res", "Glitch", "Mashup", "Loop-Musik", "freie Improvisation", "experimenteller Techno", Klangkunst brut, hochfrequente ultra-minimalistische, experimentelle Feldaufnahmen, spielerische/Computerspiel-Klangästhetik ... Neben den formalen, dynamischen, klanglichen, rhythmischen oder stilistischen Veränderungen manifestiert sich diese Ästhetik in sozialen Klangexperimenten auch in Form von radikalen Verschiebungen im konzeptionellen und referenziellen Kontext der geschaffenen Stücke. Daraus ergibt sich eine visuelle Ästhetik, die stärker mit populären Subkulturen verbunden ist und eine Vorliebe für das Kryptische, für Alterität, für das bewusste Fehlen von Begleit-/Programmnotizen, Erklärungen oder Kontextualisierungen hat. All diese Veränderungen finden statt und erklären sich größtenteils durch den drastischen Rückgang – oft sogar die völlige Auflösung – der traditionellen Regulierung und Kontrolle, die sowohl von akademischen als auch von kommerziellen Kräften auf unterschiedliche Weise ausgeübt wird. Die relative Entfremdung und Ächtung des Experimentellen hat wiederum ihre Vorteile: Ein Individuum ohne geregelte Ausbildung/Fähigkeiten, aber mit einer guten Portion Intuition und Talent hat in der Tat einen Vorteil als potenzieller Generator ästhetischer Innovation. Und dies ist besonders relevant, wenn die Vergesellschaftung der kreativen Technologie Millionen von potenziell kreativen Individuen hervorbringt.

6 - Rekombination

Ähnlich wie bei anderen dezentralisierten Bevölkerungsphänomenen, etwa der biologischen Evolution oder dem Wandel der Sprache, ist die kulturelle Rekombination im weitesten Sinne mit sozialen Klangexperimenten gleichzusetzen. Der bereits klassische Begriff des "Remix" ist in diesem Gebiet nur ein winziger Teil einer grundlegenden und bestimmenden Triebkraft mit vielfältigen Erscheinungsformen: Bearbeitung, Manipulation, Behandlung, Mischung, Mutation, Verfremdung von Klangmaterial ... sie alle machen eine der tiefsten Essenzen der klangexperimentellen Praxis aus, insbesondere in ihrer sozialen Inkarnation. Jenseits des üblichen vernetzten Austauschs zum Anhören wird Klangmaterial mit der ausdrücklichen Absicht geteilt und ausgetauscht, neue Klangschöpfungen zu generieren; alles wird zu "Quellmaterial". Das aufgezeichnete kulturelle Erbe – das eigene oder das eines anderen – hört auf, nur Erinnerung zu sein und wird dank der Kräfte der Rekombination zum Ausgangspunkt einer neuen kulturellen Reinkarnation. Die "Stücke" sind nicht nur endgültige Endpunkte, sondern auch klangliche Samen und Inspirationen in einer momentanen globalisierten Noosphäre. Angetrieben von ihrer kollektiven und dynamischen Natur hat die technologische, ästhetische und ethische Fähigkeit sozialer Klangexperimente ein solches Ausmaß erreicht, dass wir es nicht mehr mit Versionen, Referenzen oder Anspielungen zu tun haben, sondern mit einer echten, gründlichen Neukonfiguration der klanglichen Substanz sowie einer Eigendynamik der ständigen kreativen Evolution. Neben den traditionellen Variationen von Formen, Kanons, Inspirationsrahmen oder Stilen hat das soziale experimentelle Audio zusätzlich die kollektive Rekombination der Klangmaterie selbst hervorgebracht.

7 - Rechte

Die weitreichendste historisch-kulturelle Konsequenz, die die Sozialisierung und Popularisierung von Klangexperimenten mit sich gebracht hat, ist vielleicht eine grundlegende Veränderung des Rechts auf Kreativität. Diese echte, führerlose, programmlose Revolution, die weitaus relevanter ist als das oberflächliche Verständnis der oft wiederholten technologischen Veränderungen an sich, wird nahezu ignoriert, was zum Teil auf eine reaktionäre Wahrnehmung der Folgen der Ausübung dieses Rechts zurückzuführen ist. Wenn Millionen von Menschen ihre Werke kreativ produzieren und verbreiten, wie es bei den sozialen Audioexperimenten der Fall ist, wird die "Informationslawine" für manche zu einer überwältigenden Situation. Dann kommen veraltete Argumente ins Spiel, wie etwa das trügerische umgekehrte Verhältnis zwischen Quantität und "Qualität". So wie es in den Anfangsjahren des Buchdrucks geschah – mit vergeblichen Einwänden, die sich auf die Tatsache stützten, dass plötzlich mehr Bücher produziert und zugänglich gemacht werden konnten, als ein Mensch im Laufe seines Lebens lesen konnte –, ist die Vergesellschaftung des Rechts, etwas zu schaffen, ein technokulturell natürlicher Prozess; unvermeidlich, wünschenswert und äußerst fruchtbar. In der sozial-experimentellen Audiowelt ist dieses Recht auf Schöpfung kein bloßes ätherisches Prinzip: Selbstproduktion und Selbstdiffusion, die durch das Urteil des Volkes (ob majoritär oder minoritär) und durch das Fehlen von Ruhmesgelüsten, die für kommerzielle Musik so kennzeichnend sind, synergetisch zusammenwirken, haben eine Etho-Ästhetik der Wertschätzung der Schöpfung hervorgebracht, die nur noch wenige Überbleibsel klassischer Imperative, weder akademischer noch kommerzieller Art, aufweist. 

Der Audio-Schöpfer ist nicht derjenige, der über ein Zeugnis verfügt oder einen kommerziellen Einfluss hat, sondern derjenige, der sich selbst als Künstler bezeichnet und dies durch seine Tätigkeit beweist: eine Leistungsgesellschaft mit sozialer Umverteilung und Neudefinition der Bewertung dessen, was "erfolgreich" oder "interessant" ist. Im krassen Gegensatz zur kommerziellen Musik, aber auch zum Starsystem der zeitgenössischen Kunst, ist dies der Grund dafür, dass das Verhältnis zwischen Künstlern und Publikum im Bereich der sozialen Klangexperimente geradezu schockierend 1:1 ist: alle Interessierten sind auch selbst aktive Schöpfer. Dies ist auch die Ursache dafür, dass die traditionelle Dichotomie zwischen "Amateur" und "Profi" in diesem Bereich obsolet geworden ist. In der sozial-experimentellen Audiowelt sind es erstaunlich oft gerade die "Amateure", denen es an Kontext und traditioneller Ausbildung fehlt, die überraschende und saftige Innovationen hervorbringen. So kommt es in diesem Bereich zu einer ständigen Neudefinition von Ästhetik und Wertesystemen, dezentral und außer Kontrolle, unmöglich zu erfassen und mit schädlichen Folgen, aber fruchtbar, natürlich und wünschenswert: Wir alle sind Schöpfer.


Eine Ausstellung des immateriellen Überflusses

Die oben genannten Prozesse und Bereiche bilden den Rahmen für die gleichnamigen Bereiche von AUDIOSPHERE: Social Experimental Audio, Pre- und Post-Internet. So manifestieren sich meine konzeptionellen und kuratorischen Strategien für die Ausstellung als Ganzes in einem recht ungewöhnlichen Ergebnis in Bezug auf die Präsentation, das für viele wahrscheinlich ungewohnt ist. AUDIOSPHERE ist möglicherweise die erste groß angelegte, nicht-konzeptionelle Ausstellung zeitgenössischer Kunst ohne Objekte und ohne Bilder. Diese eigentümliche und unverblümte Kombination von Fülle und Immaterialität ist weder skurril noch zufällig, sondern vielmehr eine konsequente und natürliche Widerspiegelung dessen, was ich als entscheidende Merkmale des sozialen experimentellen Audiobereichs betrachte.

AUDIOSPHERE: Social Experimental Audio, 2020 - Reina Sofía National Museum and Art Center (Madrid, Spain)

In diesem Rahmen gliedern drei miteinander verbundene wesentliche Achsen, die ich im Folgenden zusammenfasse, diese Ausstellung:

1 - Abundanz

Diese Ausstellung zeigt die Arbeit von Hunderten von Künstlern/Schaffenden aus der ganzen Welt (siehe Katalogverzeichnis der Ausstellung mit umfassender Auflistung aller Werke und direkten Links zu den Websites aller Künstler), die dem Großteil der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Diese ungewöhnliche Fülle ist nicht das Ergebnis eines ehrgeizigen Umfangs, sondern eher eines argumentativen und illustrativen Bedürfnisses. Trotz der enormen geografischen, generationsbedingten und ästhetischen Vielfalt (neben anderen Kriterien) stellt diese Gruppe von Künstlern nur einen kleinen Ausschnitt aus dem riesigen Universum der sozial-experimentellen Audiokunst dar – natürlich subjektiv und mit Auslassungen, aber sorgfältig ausgewählt.

Diese Größe ist einerseits eine ausdrückliche Anerkennung einer gegenwärtigen Realität, in der eine große Anzahl von Künstlern – nicht nur eine kleine Elite – eine echte Relevanz hat, was man als Atomisierung der Führung bezeichnen könnte. Andererseits ist diese Fülle auch eine direkte Reaktion auf einen eklatanten Mangel, der sich bereits über mehrere Jahrzehnte angesammelt hat, was die Präsentation der Arbeit von Audio-Schöpfern betrifft, die im Schatten oder im Halbschatten bleiben und die entweder ein Leben lang faszinierende klangliche Innovationen hervorgebracht haben, ohne dass sie praktisch anerkannt wurden, oder die gerade erst begonnen haben, eine ebenso wertvolle Arbeit zu leisten, die in vielen Fällen gerade wegen ihres übermäßigen Bildersturms, begleitet von einer Unfähigkeit, mit den Mechanismen des cyber-sozialen Cools von heute umzugehen, einer ähnlichen Ächtung ausgesetzt war.

Diese Ausstellung zielt also gleichzeitig darauf ab, die Aufmerksamkeit auf ein enormes historisch-kulturelles Vakuum zu lenken und deutlich über das hinauszugehen, was in vielen historischen Ausstellungen der so genannten Klangkunst im Bereich der zeitgenössischen Kunst bereits eine ewige Wiederholung des "ABC" der Klangschöpfung ist (eine sehr kurze Liste – sowohl in Bezug auf die Anzahl als auch auf die Ästhetik – von "Pionieren", Figuren der "Avantgarde" und dergleichen).

Ein solches Ausmaß und eine solche Vielfalt implizieren notwendigerweise das Fehlen klarer oder strikter Grenzen, sowohl künstlerisch/klanglich als auch zeitlich, um das monumentale Feld der sozialen experimentellen Audiokunst abzugrenzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein solcher Bereich nicht als ein Konglomerat von Gravitationszentren anerkannt werden kann, die implizit definiert und durch die Werke und Künstler dieser Ausstellung veranschaulicht werden, die im Wesentlichen relativ unterirdische, nicht-kommerzielle, nicht-akademische Gebiete widerspiegeln. Durch die Manifestation der oben erwähnten Prozesse der massenhaften Vergesellschaftung des Schaffens umfasst der behandelte Zeitraum, im Wesentlichen ab den 1980er Jahren, die Jahrhundertwende mit einer natürlichen Unterteilung, die in etwa einer Periode entspricht, die im Wesentlichen "vor dem Internet" in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts liegt (natürlich nicht in seiner Erfindung, sondern in seiner ausgedehnten sozialen Implantation), und einer vollständigen "Post-Internet"-Periode, in den ersten beiden Jahrzehnten des 21.

Schließlich ist die Fülle dieser Ausstellung natürlich auch ein natürlicher Hinweis auf die allgemeine Fülle der "Infosphäre", in die wir wohl oder übel eintauchen sollen. Die allgemeine Empfehlung lautet daher, nicht zu versuchen, die veralteten Strategien der Erschöpfung und Systematisierung von Inhalten anzuwenden. Wenn man stattdessen akzeptiert, dass die Unmöglichkeit eines allumfassenden Blicks keine Niederlage gegen die Informationslawine ist, sondern eher ein Sieg einer wünschenswerten natürlichen Vielfalt, entfaltet sich AUDIOSPHERE als ein weites Mikrouniversum, in dem wir suchen und finden können, aber auch finden, ohne zu suchen. Dieses Suchen und Finden wird zudem durch die Konzeption der Ausstellung und ihre besondere technologische Umsetzung exponentiell vervielfacht, denn jedes Werk stellt einen Einstieg in die immens größere Welt des jeweiligen Künstlers und seines zugänglichen Netzwerks aus unzähligen und unmittelbaren Verbindungen zu anderen Künstlern dar. Diese AUDIOSPHÄRE wird nicht wirklich durch die Wände der Ausstellungsräume begrenzt, sondern durch eine virtuelle Membran mit Tausenden von telematischen Poren.

AUDIOSPHERE: Social Experimental Audio, 2020 - Reina Sofía National Museum and Art Center (Madrid, Spain)

2 - Zuhören und Immaterialität

Trotz des Anscheins ist das Hören selbst oft die große Abwesenheit in vielen Ausstellungen der sogenannten Klangkunst. Ein echtes, tiefes, engagiertes, durchdringendes und aufschlussreiches Zuhören, das heißt, nicht nur die referentielle oder dokumentarische Version davon. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich in der Tat leicht erklären, wenn wir sowohl die Bedeutung als auch die Konsequenzen der nicht ganz einfachen Unterscheidung zwischen "Dingen, die klingen" und "Klängen, die etwas sind" verstehen, wenn wir einen solchen Ausdruck zulassen. Das heißt, Audio an sich als kreatives Material und als Objekt. Nicht im 'Abstrakten', sondern genau im Gegenteil: im Konkreten.

Diese Ausstellung präsentiert keine klingenden Objekte, Installationen, Schallplatten oder Publikationen. Sie zeigt auch nicht deren analoge oder digitale Äquivalente der Repräsentation. Sie präsentiert lediglich, wie es für die Besucher heißt, "immaterielle akustische Werke". Vielleicht ist es für viele überraschend, dass ich AUDIOSPHERE nicht als eine Ausstellung über Klangkunst betrachte. In Anbetracht der Aufmerksamkeit, die dem Hören gewidmet wird, und der besonderen Auswahl der Werke, die im Wesentlichen im Bereich des Hörens entwickelt wurden und dort existieren, wäre es, wenn es sich tatsächlich um Kunst handelt, auf jeden Fall eine "Audiokunst" oder eine "aurale Kunst". 

Diese Unterscheidung ist nicht nur eine Frage der Begriffe. Eine grundlegende Konsequenz dieses übergreifenden Ausstellungsansatzes ist die Umlenkung der Aufmerksamkeit des Betrachters vom "Quellen-Objekt" –der klassischen materiellen Konstruktion mit Lautsprechern und/oder anderen klingenden Objekten, die für die kanonische Klangkunst charakteristisch ist – auf die tatsächlich hörbaren (immateriellen) "Materialien" selbst. Diese scheinbar einfache, aber entscheidende Neuausrichtung könnte auf eine Abgrenzung der Audiokunst als eine audio-kreative Praxis hinauslaufen, die sich auf den Akt des Hörens (mit dem der Begriff "Audio" etymologisch verbunden ist) und auf die Arbeit mit diesen paradoxen "immateriellen Materialien" konzentriert. Eine kreative Praxis, die sich gleichzeitig nicht nur von den restriktivsten und traditionellsten Vorstellungen von Musik befreit (ein bereits klassischer Anspruch), sondern auch von der vielleicht vergleichsweise restriktiven Tradition der visuellen objektbasierten Kunst.

Eine Zeit lang etablierte die so genannte Klangkunst – und sie war zu Recht stolz darauf – ein Territorium, das bis zu einem gewissen Grad von den Zwängen und Einschränkungen der konventionelleren Musikauffassungen befreit war. Meiner Meinung nach wird sie jetzt jedoch von der zeitgenössischen Kunst phagozytiert und damit zu einem kleinen Teil von ihr, vor allem wegen der kombinierten Stärke ihrer konzeptuellen, epistemologischen und objektbasierten Paradigmen. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass der nächste Zufluchtsort für den am Gehörten interessierten Audio-Schöpfer wieder in der Musik liegen könnte. Offensichtlich im gesetzlosen Niemandsland der unwirtlichsten Grenzbereiche der Musik.

Technisch gesehen erfolgt das Hören in dieser Ausstellung über eine eigens dafür entwickelte App (AUDIOSPHERE App), die als individuelle Schnittstelle für den Zugang zu den immateriellen Hörwerken fungiert (einschließlich der Möglichkeit einer Zufallsauswahl aus einem Pool von Werken). Dieser Zugang erfordert die physische Anwesenheit des Besuchers in den verschiedenen Ausstellungsräumen, ermöglicht aber eine uneingeschränkte individuelle Mobilität in einer Art Virtualität zwischen Werken und Räumen. Das Anhören erfolgt mit sehr hochwertigen Kopfhörern, ein entscheidendes Merkmal, das sich um den schwächsten Punkt kümmert, der heutzutage überraschenderweise -am wenigsten beachtet wird, nämlich nicht mehr die digitale Auflösung, sondern die Lautsprecher oder Kopfhörer, die den kodierten Ton am Ende dieser Sequenz für die Wahrnehmung rephysikalisieren.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Immaterialität akustischer Werke keineswegs bedeutet, dass alle materiellen Elemente, die an ihrer Produktion und Reproduktion beteiligt sind (von Mikrofonen bis zu Glasfaserkabeln), ignoriert oder verdrängt werden, was uns allen durchaus bewusst ist. Allerdings sollten wir die unvermeidliche Materialität der Mittel und Zwischenprozesse (die auch in traditionellen materiellen Werken, wie z.B. einem Gemälde, in differenzierter Weise vorhanden sind) nicht mit dem Werk selbst verwechseln oder verquicken, wenn es als aural betrachtet wird. So wie einige masselose subatomare Teilchen eine enorme Menge an materiellen Mitteln und Energie benötigen, um in ihrer ephemeren Existenz erzeugt zu werden, so verhält es sich mit der Klangerzeugung, die sich flüchtig mit einer ätherischen Präsenz der sofortigen Auflösung manifestiert.

Diese so verstandene Auralität der Werke und die technisch-konzeptionelle Gestaltung von AUDIOSPHERE bieten dem Besucher eine zusätzliche und außergewöhnliche Möglichkeit: allein durch seine physische Anwesenheit und seine Hingabe an das Hören kann er einige der Werke der Ausstellung mitnehmen (eigens für diese Ausstellung in Auftrag gegebene Stücke, die hier in kostenlosem Streaming archiviert sind).. Dabei handelt es sich nicht um die typischen Reproduktionen, Kopien oder Repräsentationen (die klassische Benjaminsche Kopie), sondern buchstäblich um einen digitalen Klon des digitalen Originalwerks. Das heißt, der Besucher erhält kein "Duplikat" im herkömmlichen Sinne, sondern genau dasselbe, was der Künstler hat. Wenn Sie so wollen, ein weiteres mögliches Paradoxon der Audio-Immaterialität.

3 - Von der Ausstellung zum Erlebnis

Eine klare Konsequenz aus all dem oben Gesagten ist für diese Art von immateriellen Kreationen die technokulturelle Verklärung des Museumsraums von der Ausstellung zum Erlebnis. Anstelle (oder zusätzlich) der Präsentation von Objekten oder Referenzdokumenten immaterieller Werke entsteht eine neue wichtige Funktion als außergewöhnlicher Erfahrungsraum.

Dies ist in dieser Ausstellung der Fall: ohne Objekte und ohne Dokumente; wo die Räume architektonisch so gestaltet und umgestaltet wurden, dass sie eine Art tiefes Zuhören mit außergewöhnlichem Komfort fördern; wo die Besucher über Abspielmöglichkeiten verfügen, die für die meisten von ihnen außergewöhnlich sind; und wo eine Kombination aus zeitweiliger Abkopplung vom üblichen Übermaß an individueller Telekommunikation (von einigen bereits als "digitaler Entzug" vermarktet) zusammen mit einer dramatischen Abwesenheit von physischen Elementen und Informationen eine Umgebung bilden, die heutzutage immer ungewöhnlicher wird. 

AUDIOSPHERE operiert mit einer Situationsstrategie, die ich üblicherweise als Monomedia bezeichne: eine bewusste temporäre sensorisch-informatorische Reduktion, um die mächtigste Form von Multi-/Transmedien zu fördern: nicht die traditionelle, die außerhalb des Körpers stattfindet, sondern die, die innerhalb des Körpers stattfindet.

In einer Welt, in der angeblich alle Informationen zugänglich sind, ist genau das, was tragischerweise unzugänglich geworden ist, die Abwesenheit von Informationen. Oder, in unserem Kontext vielleicht genauer gesagt, die Abwesenheit konstanter peripherer Informationen. Wenn Inhalte allgegenwärtig und universell zugänglich sind, insbesondere im Falle digitaler oder digitalisierbarer Werke, ist das wesentliche Bedürfnis nicht der Zugang zum Objekt oder zu seinen Satelliten, sondern die Art der Situation und die Art der Beziehung zu ihm. Die Erfahrungsräume der unmittelbaren Zukunft können – wie ihre angestammten Äquivalente seit den Anfängen der Menschheit –außergewöhnliche Bedingungen bieten, die außerhalb von ihnen nur selten zur Verfügung stehen, und zwar für so ehrgeizige und notwendige Zwecke wie Neufokussierung, Hyperwahrnehmung, Konzentration, Erweiterung, Durchdringung, Erhöhung, Vergrößerung und schließlich die tiefgreifende Transformation unserer Interaktion mit der Welt, jenseits ihrer hyperaktiven oberflächlichen Schichten semantischer und repräsentativer Inbrunst.

AUDIOSPHERE manifestiert sich selbst als ein solcher Erfahrungsraum, um als multiples Portal Zugang zu dem riesigen, delokalisierten, unterirdischen und vielgestaltigen Universum des sozialen experimentellen Audios zu ermöglichen.

  • Bailey, Thomas B. W. Micro Bionic: Radical Electronic Music and Sound Art in the 21st Century. Creation Books, 2009.
  • Bailey, Thomas B. W. Unofficial Release: Self-Released And Handmade Audio In Post-Industrial Society. Belsona Books Ltd., 2012.
  • Baudrillard, Jean. Why hasn’t everything already disappeared? Seagull Books, 2009.
  • Benjamin, Walter. “The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction”. In: Illuminations: Essays and Reflections, Walter Benjamin. Schoken, 1969 (original 1935).
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Francisco Lopez, Portrait

Francisco Lopez

Francisco López ist international als eine der Hauptfiguren im Bereich der experimentellen Musik und Audiokunst anerkannt. Seine Erfahrung auf dem Gebiet der Klangerzeugung und der Arbeit mit Umweltaufnahmen erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren, in denen er ein beeindruckendes Klanguniversum entwickelt hat, das ganz persönlich und ikonoklastisch ist und auf einem tiefgründigen Zuhören der Welt beruht. Er hat Hunderte von Klanginstallationen, Projekten mit Feldaufnahmen und Konzerten/Performances in über achtzig Ländern realisiert, darunter in den wichtigsten internationalen Konzertsälen, Museen, Galerien und Festivals, wie z. B.: Nationales Musikauditorium (Madrid), PS1 Contemporary Art Center (New York), Museum of Modern Art (Paris), Internationales Filmfestival (Rotterdam), Festival des Arts (Brüssel), EMPAC (Troy, USA), Darwin Fringe (Darwin, Australien), Institute of Contemporary Art (London), Museum für Moderne Kunst in Buenos Aires, Museum für Zeitgenössische Kunst in Barcelona, Center of Contemporary Art (Kita-Kyushu, Japan), Nationalmuseum Reina Sofía (Madrid), Spanischer Pavillon auf der Expo Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) usw. 

Sein umfangreicher Katalog von Klangwerken - mit Live- und Studiokollaborationen sowie Projekten, die er mit mehr als tausend Künstlern kuratiert und geleitet hat - wurde von über 450 Plattenfirmen/Verlagen in der ganzen Welt veröffentlicht. Neben anderen Preisen wurde López fünfmal mit einer Ehrenerwähnung beim renommierten Ars Electronica Festival (Österreich) ausgezeichnet und erhielt einen Qwartz Award (Frankreich) für die beste Sound-Anthologie.

Artikel von Francisco Lopez
Originalsprache: English
Artikelübersetzungen erfolgen maschinell und redigiert.