Die Suche nach instrumentaler Kontrolle

Der Komponist Jan-Bas Bollen beleuchtet die Beweggründe für die Entwicklung seines HyperTheremins, eines Instruments, mit dem er audiovisuelle Poesie durch die Manipulation von Material präsentiert, das nur durch eine präzise Choreographie der Hände im Raum sichtbar wird.

Jan-Bas Bollen Profilfoto Jan-Bas Bollen
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Komponist*innen unter Kontrolle

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sich die Komponist*innen zunehmend der potenziellen Möglichkeiten elektronischer Klänge bewusst. Die Idee der "unendlichen Möglichkeiten" wurde von Luigi Russolo 1913 in L'arte dei Rumori geprägt:

"Wir müssen die begrenzte Vielfalt der Klangfarben von Orchesterinstrumenten durch die unendliche Vielfalt der Klangfarben von Geräuschen ersetzen, die durch spezielle Mechanismen erzeugt werden ..." Und: "Die Vielfalt der Geräusche ist unendlich. Wir besitzen heute sicherlich über tausend verschiedene Maschinen, unter deren tausend verschiedenen Geräuschen wir unterscheiden können. Mit der unendlichen Vermehrung der Maschinen werden wir eines Tages in der Lage sein, zwischen zehn-, zwanzig- oder dreißigtausend verschiedenen Geräuschen zu unterscheiden. Wir werden diese Geräusche nicht imitieren müssen, sondern sie nach unserer künstlerischen Phantasie kombinieren."

Luigi Russolo behind his Russolophono

Luigi Russolo an seinem Russolophono.

In den folgenden Jahrzehnten beflügelte der Gedanke an eine "unendliche Vielfalt" die Phantasie. Doch 1958 notierte Stockhausen in einem Vortrag: 

"... es ist auch klar, dass die Vielfalt der Klänge, die elektronisch erzeugt werden können, nicht unbegrenzt ist. Die Elektronische Musik als Gattung hat – allen unseren anfänglichen Vorstellungen zum Trotz, die "Gattungen" im Bereich der Musik abzuschaffen und alle möglichen Klangverfahren einzubeziehen – eine eigene Klangphänomenologie, die nicht zuletzt durch die Lautsprecherwiedergabe bedingt ist." (Veröffentlicht 1961 in Die Reihe 5, übersetzt von Jerome Kohl)

Heute scheinen die Komponist*innen elektronischer Musik realistischer in die Zukunft zu blicken und sind mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen zur Klangmanipulation gut vertraut, wenn auch nicht zufrieden. Sie waren in der Lage, diese Werkzeuge "offline" in der relativ komfortablen Umgebung des Studios, in dem sie arbeiten, zu entwickeln und einzusetzen.

Es haben sich verschiedene Arten der Synthese entwickelt, die eine breite Palette von Klängen und ausgefeilte zeitliche Übergänge zwischen verschiedenen Klangstadien bieten. Insbesondere die zeitliche Manipulation von Klängen ist der Schlüssel zu fortschrittlichem Sounddesign: Sie ermöglicht es Komponist*innen, ihr Ausgangsmaterial zu fesselnden Klangerlebnissen zu verarbeiten.

Kontrolle auf der Bühne

Ganz anders ist die Situation für viele Instrumentalist*innen, die auf der Bühne mit Live-Elektronik arbeiten und versuchen, die Einschränkungen der elektronischen Versionen traditioneller akustischer Instrumente zu vermeiden – dazu später mehr. Selbst mit den neuesten und schnellsten Laptops haben sie nur begrenzten Zugang zu umfangreichen und fließenden Übergängen von einer Klangfarbe zur anderen. Bei hochentwickelten traditionellen akustischen Instrumenten ist die verfügbare Genauigkeit und Effizienz bei der Veränderung von Klangparametern in Echtzeit immer noch höher als bei analogen und digitalen elektronischen Musikinstrumenten. Das liegt vor allem daran, dass bei akustischen Instrumenten die Parameter-Kontrollpunkte – angeregt durch menschliche Eingaben – und die Art der Klangerzeugung zusammenfallen, d. h. es besteht ein direkter physikalischer Zusammenhang zwischen der eingesetzten menschlichen Kraft (Atmung, Druck usw.) und den resultierenden Klangeigenschaften. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass unser menschliches Gehirn mit seiner ausgefeilten akustischen und sensorischen Rückkopplung genau dafür ausgelegt zu sein scheint.

Music & our brain

Hunt und Kirk formulieren es wie folgt:

"In krassem Gegensatz zu der allgemein akzeptierten Wahlmöglichkeit vieler Computerschnittstellen stehen die Steuerungsschnittstellen für Musikinstrumente und Fahrzeuge, bei denen der menschliche Bediener die volle Kontrolle über das Geschehen hat. Viele Parameter werden gleichzeitig gesteuert, und der menschliche Bediener hat einen Gesamtüberblick über das, was das System tut. Die Rückmeldung erfolgt nicht durch Aufforderungen auf dem Bildschirm, sondern dadurch, dass der Mensch die Auswirkungen jeder Aktion mit seinem ganzen Körper erlebt." Andy Hunt und Ross Kirk,  'Mapping Strategies for Musical Performance', in Trends in Gestural Control of Music, ed. Marcelo M. Wanderley and Marc Battier (Paris: IRCAM, 2000), 384.

Die Entwicklung von Controllern

Grundsätzlich besteht die Herausforderung für die Entwickler*innen elektronischer Instrumente darin, die Kluft zwischen der Spannungssteuerung der elektrischen Stromquelle und der eigentlichen Art der Synthese oder Verarbeitung zu überbrücken.

Theremin Schematic

Clara Rockmores Theremin-Schema, handgezeichnet von Robert Moog.

Seit dem Aufkommen der elektronischen Musik sind viele mehr oder weniger erfolgreiche Versuche unternommen worden, geeignete Controller zu entwickeln. Obwohl eine vollständige Auflistung dieser Versuche den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, ist klar, dass in den letzten drei Jahrzehnten mit Hilfe der Digitaltechnik beachtliche Fortschritte erzielt wurden. Einrichtungen auf der ganzen Welt, wie das inzwischen aufgelöste STEIM in Amsterdam, das ZKM in Stuttgart und das MIT in Boston, um nur einige zu nennen, haben sogenannte "alternative Steuerungen" entwickelt, die häufig MIDI oder OSC als Kommunikationsprotokoll verwenden.1

Diese Controller sind mehr als bloße Übersetzungen aus der "akustischen Welt" (z. B. MIDI-Keyboards): Oft handelt es sich um exotisch aussehende Geräte mit ungewöhnlichen Konfigurationen von Knöpfen, Schiebereglern oder anderen Steuerpunkten. Manchmal sind sie als Erweiterungen bereits vorhandener akustischer oder elektrischer Musikinstrumente gedacht, manchmal gehen die Entwürfe völlig neue Wege.2

 Buchla Thunder und Linnsrument

Links, der Buchla Thunder (1998), rechts das Linnsrument (2014)

Beschränkungen

Leider stoßen wir immer noch auf große Einschränkungen, wenn wir diese Controller mit traditionellen akustischen Instrumenten vergleichen. Trotz der Forschungsergebnisse zum Thema der Beziehungen zwischen Körpergesten und elektronischem Klang, wie sie in den Veröffenttlichungen von Claude Cadoz oder den umfangreichen Studien von Marcelo M. Wanderley über Gestenerfassung und -abbildung zum Ausdruck kommen, scheint sich an den alltäglichen Erfahrungen der Interpret*innen, die auf der Bühne Elektronik verwenden, wenig zu ändern.

Wie das Original-Theremin zeigt, bietet eine begrenzte Anzahl von steuerbaren Parametern logische Kontrolle auf Kosten der klanglichen Vielfalt. Wenn wir eine nahtlose Kontrolle über verschiedene Arten von Klängen mit einem einzigen System erreichen wollen, dann brauchen wir zwangsläufig mehr Parameter und folglich mehr Kontrollpunkte. Zwar ist es durchaus möglich, durch einfaches Layering (additive Synthese) oder sequentielle Bearbeitung (z. B. FM- und subtraktive Synthese) fesselnde Klänge zu erzeugen, doch selbst diese Techniken erfordern eine beträchtliche Anzahl von Kontrollpunkten, die oft schon weit über die verfügbaren physischen menschlichen Eingabemöglichkeiten des Interpreten hinausgehen, der zudem durch einen begrenzten Überblick über den aktuellen Zustand jedes einzelnen Kontrollparameters behindert wird. Und es gibt noch mehr Herausforderungen. So sind beispielsweise multifunktionale Einzelsteuerungspunkte, die von einem Parameter zum anderen umgeschaltet werden können, problematisch, da sie die zuvor gesteuerten Parameter in der Schwebe lassen. Außerdem wird durch das Umschalten zwischen verschiedenen Klangfarben mit unterschiedlichen Parameteranforderungen die Kontinuität des Klangs unterbrochen.

Die oben genannten Einschränkungen werden zum Teil durch die kommerziell erhältlichen Hardware-Controller und in geringerem Maße durch die Software verursacht. Ich glaube jedoch, dass ein spezielles kundenspezifisches Systemdesign diese Einschränkungen überwinden kann.

Eine mögliche Alternative

Eine mögliche Lösung ist ein logisches physikalisches Eingabeschema, das eine Vielzahl von Parametern erfasst, indem es sie verschiedenen Bereichen innerhalb einer mehrdimensionalen Matrix zuordnet, auf die über ein "Kontrollkontinuum", einen virtuellen 3D-Raum, zugegriffen werden kann.

Im Jahr 2014 begann ich mit der Gestensteuerung Leap Motion, die ich mit einer speziell entwickelten Software kombinierte, um eine Kontinuität der akustischen Veränderungen zu erreichen.

Video URL
SCULPTING HANDS - jbbollen on HyperTheremin

In den letzten zehn Jahren habe ich die Software so umgeschrieben, dass sie sowohl Ton als auch Bild in Echtzeit verarbeiten kann. Dies führte zur Trilogie im Jahr 2020. 

Video URL
JBBollen Complete HyperTheremin TRILOGY 2022

Das letzte große Software-Update war für den Leap Motion V2, den ich während meines Künstleraufenthalts am IEM in Graz im Sommer 2023 entwickelt habe. Diese neue Version verfügt über ein verbessertes Skelett-Tracking.

Ausführlichere Informationen über das HyperTheremin und seine Geschichte finden Sie auf dieser Seite meiner Website: https://jbbollen.net/hypertheremin/ 

In diesem Bereich finden Sie meine neuesten Werke für das Instrument, wie z. B.: 

Video URL
BOETE - IEM Complete Set [versions121]

Mit HyperTheremin können begrenzte Horizonte und feste Klangcharakterbereiche die Verinnerlichung eines "3D-Kontrollraums" erleichtern. Die Eigenschaften bestimmter Punkte oder Bereiche können erforscht und gespeichert werden. Alternative Routen können skizziert werden. Sprünge können den Interpreten sofort von einem Ort in diesem Raum zu einem anderen bringen, mit oder ohne Interpolation. Die Möglichkeiten, die sich durch dieses Design eröffnen, sind nicht nur für die Darsteller von Vorteil. Sie berühren den Kern des Systems, das Audio- und visuelle Design. Es bedeutet, dass auch Komponisten beginnen können, ihre Offline-Techniken hinter sich zu lassen und das Studio zu ihrer Bühne zu machen, indem sie ihr eigenes multidimensionales Klangkontinuum gestalten.

Die oben beschriebene Lösung erfordert kontinuierliche Forschung. Grundlegende ergonomische Gesichtspunkte werden bei der Entwicklung eines Systems berücksichtigt, das die Klanggestaltung und ihre Echtzeitsteuerung nicht beeinträchtigt. Darüber hinaus muss auch die Choreographie der Körperbewegungen im Hinblick auf die Klangergebnisse und die visuelle Ästhetik berücksichtigt werden.

Die Beziehungen zwischen Instrumentalisten und ihren Instrumenten müssen weiter erforscht werden, wenn wir wollen, dass elektronische Systeme mit der fortgeschrittenen Kontrollierbarkeit, die akustische Instrumente bieten, mithalten können.

 

  • 1

    Die Auflösung und die Bandbreite von MIDI werden heute als eine ernsthafte Einschränkung für den Echtzeiteinsatz angesehen. Daher tendieren Live-Performer dazu, maßgeschneiderte Benutzeroberflächen (erstellt in Max/Msp, Supercollider, C oder anderen Programmen) zu bevorzugen, die sich direkt mit den Klangquellen verbinden und so die MIDI-Engpässe umgehen. OSC bietet eine wesentlich höhere Auflösung, und sowohl LAN als auch Bluetooth haben neue Korridore für die Interkonnektivität und den Einsatz neuer Controller (wie Leap Motion) eröffnet.

  • 2

     I highly recommend reading Seppo Gründler’s article The interface is the message on this platform for more on existing interfaces.

Jan-Bas Bollen

Jan-Bas Bollen (1961) studierte Violine am Amsterdamer Konservatorium und Komposition am Königlichen Konservatorium Den Haag. Er ist international als Komponist, Performer und Pädagoge tätig und schafft Musik für Solisten, Ensembles, Theaterproduktionen und Installationskunst. In vielen Werken setzt er Live-Elektronik ein, die visuelle Elemente und modernste Technologien umfasst. Er arbeitet regelmäßig mit Tänzern und Choreographen zusammen, wie z. B. Club Guy & Roni und dem Royal New Zealand Ballet. Zu seinen jüngsten Kompositionen gehören Werke für Nicholas Isherwoord, Orgelpark, David Kweksilber Big Band, den Pianisten Gerard Bouwhuis und NAP, Percussion The Hague, Ensemble Klang und die Sängerin Elaine Mitchener. Zusammen mit der Komponistin Alison Isadora bildet er das Cross-Media-Duo SYNC und engagiert sich für lokale Projekte und Workshops, bei denen Amateure und professionelle Musiker gemeinsam auftreten.

Artikel von Jan-Bas Bollen
Originalsprache: English
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