Klänge der Zukunft

Experimente mit Klang und Codierung sind der Kern meiner Praxis als Komponist sowie in Forschung und Lehre. Aber warum überhaupt mit Klängen experimentieren und warum auf der Basis von Computerprogrammen?

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Die Gründe, warum sich Menschen mit Klängen und deren technischer Verarbeitung befassen, sind höchst unterschiedlich. Oft hat es mit der Umsetzung von Inhalten – z.B. im Internet oder im Rundfunk – zu tun, es gibt Aufgaben in der Entwicklung von Hard- und Software für praktische Anwendungen sowie den Bereich der wissenschaftlichen und künstlerischen Motivationen. Diese können wiederum aus völlig unterschiedlichen musikalischen Szenen stammen, nicht zuletzt auch aus der bildenden Kunst. Schließlich gibt es auch viele Menschen, die sich privat bzw. aus Passion für den Audiobereich interessieren.

Wave Code Grafik

Wavefolding, ursprünglich von Don Buchla mit analogen Mitteln implementiert (Buchla 259). Codebeispiel in SuperCollider (Klasse SmoothFoldS, miSCellaneous_lib).

Die technischen Entwicklungen in Kombination mit der Verbreitung von Informationen im Internet bringen diese – vormals oft völlig getrennten Gruppen – in Verbindung, unter anderem auf dieser Plattform; eine großartige Möglichkeit zum Austausch von Gedanken! Es ergibt sich aber auch die Notwendigkeit klarzumachen, was die Motivation der eigenen Tätigkeit ausmacht – und zwar deutlicher als im gewohnten Arbeitsumfeld, wo Menschen mit ähnlichen Interessen agieren. Ich könnte z.B. unvermittelt einige ungewöhnliche Verfahren der Klangsynthese vorstellen (und möchte das auch in Zukunft auf dieser Plattform tun), aber für sich genommen wären diese Informationen allzu isoliert und die dahinterstehenden Motivationen für viele Leser*innen kaum nachvollziehbar. Daher: Context first.

Ich bin Komponist, liebe es an Klängen zu forschen und zu tüfteln und unterrichte Fächer mit diesen Inhalten (Klangsynthese, elektroakustische Komposition u.a.) am Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz. Das Feld der experimentellen Erforschung von Klängen, bevorzugt auf der Basis von Open-Source-Software, ist ein riesiger Kosmos, und es ist mir ein Anliegen, die eigene Faszination daran zu teilen. Dieser Schwerpunkt war keineswegs von Beginn meiner künstlerischen Tätigkeit an klar, er hat sich über Umwege ergeben. Ich möchte im Folgenden auf allgemeine und persönliche Motivationen eingehen, bevor ich die eher technischen Aspekte des Verhältnisses von Software und Klang beleuchte.

1) Überschreitungen

Ein wesentliches Merkmal künstlerischer Impulse, und das mag eine westlich geprägte Perspektive sein, ist das Moment der Überschreitung des kulturell Bekannten und Bewährten. Dies wurde insbesondere mit der Herausbildung einer autonomen Kunstszene im Europa der Aufklärung deutlich, die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Stil, von Theodor W. Adorno als soziale Gewalt charakterisiert, war in der gesamten Kunstgeschichte immer nur vorübergehend etabliert. Aber auch außerhalb der Zirkel einer abgegrenzten bzw. sich abgrenzenden Avantgarde – fraglich, ob der Begriff angesichts der Zersplitterung der Künste überhaupt noch zutreffend ist – ist die Überschreitung der Normen ein zentrales Motiv. Jede Art von experimenteller Popmusik oder Electronica möchte sich auf diese Weise vom Mainstream unterscheiden. Joanna Demers beschreibt das sehr treffend in Ihrem Buch Listening Through the Noise – The Aesthetics of Experimental Electronic Music1Überschreitung kann natürlich vieles bedeuten, insbesondere in Pop und Electronica, auch die Unterscheidung durch Mode, Auftreten und mediale Inszenierung. 

Wenn wir den engeren Bereich der musikalischen Strukturen betrachten, dann ist – wiederum insbesondere in Pop und Electronica – gerade der Aspekt des Klanglichen jener Ort, an dem sich Unterscheidung ganz deutlich manifestieren kann. Das ist an unzähligen Beispielen von Künstler*innen und Gruppen mit sehr spezifischen und – zumindest zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens – neuartigen Sounds ablesbar. In den audioaffinen Bereichen der zeitgenössischen Kunst (Neue Musik, Elektroakustische Musik, Klangkunst, ...) ist die Gemengelage jedoch weitaus komplizierter: hier geht es oft nicht primär um Klang, sondern auch oder insbesondere um musikalische Form, Dauer, Referenz, Konzept und vieles mehr. In all diesen Feldern sind Neuerungen bzw. Überschreitungen möglich, man denke etwa an die Experimente mit extremen Dauern – sei es kurz oder lang – bei Anton Webern, Erik Satie, Morton Feldman und Eliane Radigue. Mit der Entwicklung der computerbasierten Klangverarbeitung und -synthese eröffnen sich aber gerade im eigentlichen Medium des Klangs wiederum neue Chancen zur Überschreitung.

2) Hindernisse

Was unterbindet künstlerische Impulse und Neuerungen? Abgesehen von offensichtlich repressiven Situationen sind es sehr oft die indirekten Zwänge, die sich durch vorherrschende Strukturen in Ausbildung, Kunstbetrieb, Produktionsmethoden und Marktmechanismen zeigen – oder vielmehr: verbergen. Peter Ablinger: "Spät aber doch ist mir aufgefallen, dass die Abhängigkeit der Musik von den Institutionen: Orchester, Ensemblebesetzung, Akademie, Ausbildung, Instrumententradition, Konzertsaal und Musikwissenschaft nicht nur verantwortlich ist für die erdrückende Historizität des Musikbetriebs, sondern auch zur korrumpierenden Falle wird für die neueste Musik, oder zumindest ein vorurteilsbelastetes Klima schafft gegenüber allem musikalischen Tun, welches diese Institutionen auch nur teilweise zu umgehen sucht."2 Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, insbesondere die "klassische" Nachkriegs-Avantgarde der Neuen Musik hat – im Vergleich mit derjenigen anderer Sparten – ihre eigenen Voraussetzungen in einem viel geringeren Maße in Frage gestellt, wie Harry Lehmann in Die digitale Revolution der Musik herausarbeitet3. Die starke instrumentale Tradition und – cum grano salis – das Ende der technischen Entwicklungen von akustischen Instrumenten vor bereits mehr als 100 Jahren haben nach der Erforschung experimenteller Spieltechniken nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Stillstand auf dem Feld des rein Klanglichen geführt. Es ist offensichtlich, dass Weiterentwicklungen und Überschreitungen in erster Linie durch Elektronik und Computertechnologie stattfinden – wenn auch z.T. in Verbindung mit klassischen Instrumenten oder anderweitiger menschlicher Interaktion. 

Die Durchdringung mit digitaler Technologie ist, wenn man die gesamte Musikgeschichte betrachtet, disruptiv, aus unserer zeitgenössischen Perspektive aber dennoch relativ langsam, da die gleichsam natürliche und im Sinne der Traditionspflege notwendige Trägheit aller Institutionen ein Faktum darstellt. Indirekte Zwänge gibt es selbstverständlich auch in experimenteller Popmusik und Electronica, man denke an die Vermarktungsmechanismen von Labels und die vorgegebenen Formate der Distribution: in früheren Jahren Schallplatte und CD, heute die beherrschenden Internetplattformen. Ein Unterschied zum traditionellen Musikbetrieb besteht jedoch darin, dass digitale Methoden der Produktion hier ohnehin verbreitet sind, was den Weg zum klanglichen Experiment mit digitalen Mitteln ebnet.

Eine andere halb verborgene Kategorie von Hindernissen besteht innerhalb der digitalen Produktionstechniken selbst: bequeme Werkzeuge mit grafischen Benutzeroberflächen (DAWs, Plugins, Online Audio Processing etc.), kommerziell oder frei erhältlich, machen die direkte Arbeit am Klang einfach und effektiv im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation: die Anwendung bekannter Effekte, Spatialisierung etc. lassen sich schnell und praktisch realisieren. Dagegen ist grundsätzlich natürlich nichts einzuwenden, das Problem – im Sinne des künstlerisch ambitionierten Umgangs – beginnt dort, wo unweigerlich vorhandene Beschränkungen nicht wahrgenommen oder in ihrer Auswirkung unterschätzt werden.

Z.B. sind viele DAWs sehr einseitig an der Produktion beat-basierter Musik ausgerichtet, eine andere zeitliche Organisation des musikalischen Materials wird quasi als Sonderfall betrachtet; im Hinblick auf einen umfassenden musikalischen Möglichkeitsraum sollte es gerade umgekehrt sein. Damit zusammenhängend sind Verfahren der Sequenzierung oft auf einfache und repetitive Muster mit einigen Erweiterungen beschränkt, der gesamte Kosmos strukturgenerierender Verfahren, der sich primär durch Codierung erforschen lässt, wird größtenteils ausgeschlossen.

Das Spektrum verfügbarer Plugins orientiert sich meist an bereits in der Vergangenheit bewährten Synthese- und Prozessierungsmethoden, deren Struktur und Parameterauswahl sind oft vorgegeben, die Verknüpfung der Komponenten normiert (z.B. durch LFOs). 

Auch die Spatialisierung durch Plugins stellt eine Versuchung dar, da Standardmethoden, etwa Bewegungen von Punktquellen, einfach realisierbar sind und das Nachdenken über völlig andere Konzepte – z.B. die Dekorrelation bereits in Synthese oder Prozessierung zu integrieren – ausschließen. 

In den sich rasch entwickelnden KI-Anwendungen im Audiobereich, die selbstverständlich ein enormes künstlerisches Potenzial in sich bergen, sind die gleichen Muster zu erkennen – vielleicht sogar noch in einem stärkeren Ausmaß, da die Komplexität der verwendeten Algorithmen das Design von Interfaces mit Blackbox-Charakter nahelegt.

Es ist in all diesen Beispielen die Ästhetik der Benutzeroberflächen selbst, die das Nachdenken über ihre Beschränkungen, wenn schon nicht unterbindet, so zumindest erschwert. Das lustvolle Spiel mit bunten Knöpfen und Reglern und die sofortige Befriedigung durch das klangliche Resultat sind ein Reiz-Reaktionsschema, das dem Medienkonsum unserer Zeit entspricht. Hier lässt sich geradezu exemplarisch Daniel Kahnemans Unterscheidung zwischen schnellem und langsamem Denken – von ihm System 1 und System 2 genannt – beobachten4. Attraktive Interfaces bedienen das Bedürfnis nach instinktiver und emotionaler Reaktion. Dass künstlerisches Arbeiten diese auch beinhalten kann, als willkommenen Auslöser vielleicht sogar beinhalten muss, scheint klar, aber bewusste ästhetische Entscheidungen müssen letztlich darüber hinausgehen.

Keineswegs möchte ich hier den Eindruck erwecken, dass Audio-Tools mit bequemen Benutzeroberflächen generell abzulehnen seien. Ich verwende diese schließlich auch selbst, allerdings nur für bestimmte eingeschränkte Aufgaben (Equalizing, Editieren etc.). Aus der Beobachtung und der Beschreibung von anderen Arbeitsprozessen, z.B. von Studierenden und in Onlineforen, leite ich jedoch ab, dass die Macht und Einschränkung durch gegebene Interfaces – und umgekehrt, die Möglichkeiten der individuellen Entwicklung mit Open-Source – jeweils krass unterschätzt werden.

3) Pfade

Es existiert eine fantastische Chance, die zuvor beschriebenen Beschränkungen soziologischer, psychologischer und technischer Art zu überwinden. Ich beziehe mich dabei hauptsächlich auf die derzeit gebräuchlichen, aber zumeist schon vor mindestens zwei Jahrzehnten entwickelten Sprachen SuperColliderPure DataChucKCsound und andere. Da ich selbst bevorzugt textbasiert programmiere und bestimmte Charakteristika dieser Sprache besonders schätze, ist SuperCollider (SC) meine erste Wahl.

Derartige Umgebungen ermöglichen zwar, ebenso wie gebräuchlichere Werkzeuge, das schnelle Reagieren auf klangliche Resultate, sie integrieren aber zusätzlich in viel stärkerem Ausmaß die Gestaltung von Algorithmen, sowohl in der Synthese als auch in der Strukturgeneration. Diese Art zu denken – System 2! – ist strategisch ausgerichtet, in Teilen des Arbeitsprozesses mühsam und langwierig, aber im Falle des Gelingens äußerst lohnenswert. Die entwickelten Werkzeuge sind wiederverwendbar und können den künstlerischen Arbeitsprozess in eleganter Weise individualisieren. Es würde den Rahmen des Artikels sprengen, detailliert darauf einzugehen; das Modell einer iterativen, das Verhältnis des Subjekts zu Geschichte und Kultur integrierenden Arbeitsweise mit Algorithmen habe ich in diesem Essay skizziert5

Da das Denken im System 1 immer eine größere Anziehungskraft ausübt als das Denken im System 2, wird das klassische Programmieren von Klang und Strukturen vermutlich immer eine Option für eine Minderheit bleiben, überdies stellt es auch eine didaktische Herausforderung dar. Umgekehrt ist es eine große Chance für die diejenigen, die sich darauf einlassen, denn Brachland, das zur Erkundung einlädt, gibt es im Überfluss. 

Seit den 1970er-Jahren hat sich – abseits der Forschung an kommerziell verwertbaren Syntheseverfahren wie FM – eine gleichsam oppositionelle Kultur der Klangsynthese entwickelt, insbesondere unter dem Schlagwort non-standard und verbunden mit den Namen Gottfried Michael Koenig, Herbert Brün, Steven R. Holtzman und Iannis Xenakis6. Opposition kann hier verstanden werden sowohl als Ausrichtung gegen die kommerzielle Verwertbarkeit als auch gegen das Paradigma der stark an der Physik und Analyse – z.B. akustischer Instrumente – orientierten Synthesekategorien der spektralen und physikalischen Modelle. Julius O. Smith unterscheidet in seiner bekannten Taxonomie die Kategorien Processed Recording, Spectral Model, Physical Model und Abstract Algorithm7, wobei er spektrale und physikalische Modelle als jeweiligen Kern der Pole Rezeption und Genese favorisiert. Non-standard im historischen Sinne fiele z.B. in die Kategorie Abstract Algorithm. In den letzten Jahren ist ein zunehmendes Interesse an alternativen Methoden der Synthese zu beobachten, ablesbar z.B. an individuellen Initiativen (Nick CollinsLuc DöbereinerSergio LuqueDavid Pirrò), Symposien und Forschungsprojekten. Es sei hier festgehalten, dass alternative Verfahren in einem allgemeineren Sinn die ursprüngliche Bedeutung von non-standard überschreiten. Auch physikalische Modelle (nicht-akustischer Art) können zur Synthese verwendet werden, was die Schwierigkeiten einer allumfassenden Taxonomie der Syntheseverfahren veranschaulicht – wenngleich die Kategorisierung von Smith in groben Zügen weiterhin tragfähig erscheint. 

Die individuelle Beschäftigung mit alternativen Methoden findet – naheliegend – hauptsächlich auf der Basis von Open-Source-Software statt. Meine eigene Forschung in diesem Bereich ist mit der Entwicklung der Library miSCellaneous_libeiner Erweiterung von SC, verknüpft. Ich möchte nun einige Beispiele vorstellen, die ich den Tutorials meiner Software und einem damit verbundenen Projekt künstlerischer Forschung entnommen habe. Mein Arbeitsprozess bei umfangreicheren kompositorischen Vorhaben unterscheidet sich davon nicht grundsätzlich.

Granularsynthese, die Akkumulation von Klangpartikeln aus beliebigen Quellen, war über einen langen Zeitraum hinweg mein bevorzugtes Verfahren. Die Varianten sind kaum überschaubar, die Bandbreite der klanglichen Resultate ist so groß, dass man oft annehmen könnte, es mit unterschiedlichen Syntheseverfahren zu tun zu haben. Einen hervorragenden Überblick gibt Curtis Roads8. Die Sequenzierung von einzelnen Events mittels Patterns in SC ist eine besonders elaborierte Option dieser Sprache9 und eröffnet, als spezielle Anwendung, differenzierte Möglichkeiten, um die Eigenschaften einzelner Grains (Klangpartikel) zu bestimmen. Aus diesem Grund habe ich mehrere Tutorials zur Granularsynthese in miSCellaneous_lib integriert. Die folgenden Beispiele sind Verarbeitungen einer fünfsekündigen Aufnahme eines Küchenklangs.

Audio file

Quelle: Küchenklang, mono

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Buffer Granulation Tutorial, Ex. 2b

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Buffer Granulation Tutorial, Ex. 2c

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Buffer Granulation Tutorial, Ex. 3c

Für ein damit verbundenes Experiment entschied ich mich, aus dem Material eine Reihe von elektroakustischen Miniaturen zu produzieren und den Arbeitsprozess zu dokumentieren. Der Quellcode ist in miSCellaneous_lib enthalten, und die einzelnen Stücke sind prinzipiell reproduzierbar (Zufallskomponenten im Code schließen eine buchstäbliche Reproduktion de facto aus).

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kitchen studies, Teil 1

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kitchen studies, Teil 2

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kitchen studies, Teil 3

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kitchen studies, Teil 4

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kitchen studies, Teil 5

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kitchen studies, Teil 2

In den letzten Jahren habe ich mich vermehrt mit alternativen Verfahren außerhalb der granularen Techniken beschäftigt und diese in meinen letzten akusmatischen Werken der Reihe Matters angewandt. Manchmal sind es auch ungewöhnliche Verknüpfungen einfacher und bekannter Verfahren, die mich kompositorisch herausfordern. Die in den  kitchen studies auf granularer Zeitebene verwendete Pattern-Klasse zur Effekt-Prozessierung10 kommt in Matters 9 im größeren Zeitmaßstab zur Anwendung.

Audio file

Matters 9, Exzerpt

4) Ausblicke

Die Option mit Open-Source-Software an Klängen zu forschen ist nun längst nicht mehr neu. Der "gold rush" der Computermusik, die Zeit der 1990er-Jahre, in der die Klangverarbeitung in Echtzeit erstmals für viele Musiker*innen abseits großer Institutionen praktikabel wurde und sich umfangreiche Open-Source-Projekte mit weltweiten Communities entwickelten, steigerte auch das Interesse an alternativen Methoden der Synthese und Prozessierung. Neben SuperCollider, Pure Data, ChucK, Csound und einigen anderen konnten sich in den letzten 20 Jahren allerdings kaum neue größere Open-Source-Projekte verbreiten. Das mag verwundern, wenn man die ungebrochene Entwicklung im Hardware-Bereich bedenkt. Umgekehrt steigt allerdings die Durchlässigkeit zwischen vormals getrennten Revieren. Als Beispiel sei die Entwicklung der VSTPlugin-Library von Christof Ressi genannt, die die Einbindung von VST-Instrumenten und -Effekten in Pure Data und SuperCollider ermöglicht. Dies kommt einer Verbindung separater Universen gleich – ein Durchbruch, der in den Open-Source-Communities für Aufsehen sorgte.

Die Option, derartige Möglichkeiten künstlerisch zu nutzen, ist aber naturgemäß auf diejenigen beschränkt, die Zeit und Mühe aufbringen, um programmieren zu lernen und die Besonderheiten der jeweiligen Software zu bewältigen. Aus meiner Unterrichtserfahrung weiß ich, dass diese Hürden im Einzelfall riesig sein können. Wie bei vielen Dingen im Leben, birgt aber gerade das strategische Denken – System 2: über den Augenblick hinaus, im Hinblick auf zukünftigen Wert – die größten Chancen und Freiheiten.

Die Auswirkungen der rasanten KI-Entwicklungen sind sowohl im Hinblick auf Tools zur Synthese und Prozessierung als auch auf die Entwicklung von (Audio-)Software noch kaum abzuschätzen. Es ist durchaus denkbar, dass das Arbeiten in Programmiersprachen, wie es für meine Generation – aufgewachsen in den 1970er- und 80er-Jahren – noch üblich war, durch ein neues Paradigma abgelöst wird, in dem bisher als "high level" betrachtete Prozesse als neues "low level" an die KI delegiert werden. Das könnte auch die Audioprogrammierung auf ein neues Niveau heben, diese für Menschen ohne klassische Programmierkenntnisse öffnen und ein weiteres Nachdenken über die Auswirkungen auf die künstlerischen Prozesse erfordern. Meine Vermutung ist, dass auch dann die größten Chancen zur individuellen Iteration in der Möglichkeit der flexiblen Adaption der Verfahren liegen. Um dabei den Vorgaben des KI-Designs nicht hilflos ausgeliefert zu sein, bedarf es jedoch zumindest einer Grundkenntnis der Verfahren. Ihr genuin künstlerischer Einsatz – individuelle Formung und Überschreitung des Gegebenen – wird über die bloß reflexhafte Benutzung hinausgehen müssen.

  • 1

    Demers J. 2010, Listening Through the Noise, Oxford University Press.

  • 2

    Ablinger P. 2009, Due Pratiche.

  • 3

    Lehmann H. 2012, Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Schott.

  • 4

    Kahnemann D. 2011, Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Girou

  • 5

    ALMAT 2020, Symposium on Algorithmic Agency in Artistic Practice.

  • 6

    Computer Music Journal, 35(3), 28-39.

  • 7

    Proceedings of the 1991 International Computer Music Conference. San Francisco. International Computer Music Association.

  • 8

    Roads, C. 2001, Microsound, MIT Press.

  • 9

    https://ccrma.stanford.edu/~ruviaro/texts/A_Gentle_Introduction_To_SuperCollider.pdf

  • 10

    A Journey in Sound, September 2019, pp. 287-291.

  • Demers J. 2010, Listening Through the Noise, Oxford University Press.
  • Ablinger P. 2009, Due Pratichehttps://ablinger.mur.at/docs/2pratiche.pdf 
  • Lehmann H. 2012, Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Schott.
  • Kahneman D. 2011, Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Giroux.
  • Mayer D. 2020, Algorithms in Sound Synthesis, Processing, and Composition: a Dialectic Game. In: ALMAT 2020, Symposium on Algorithmic Agency in Artistic Practice. https://researchcatalogue.net/view/921059/922503 
  • Döbereiner, L. 2011, Models of constructed sound: Nonstandard synthesis as an aesthetic perspective. In: Computer Music Journal, 35(3), 28-39.
  • Smith, J.O. 1991, Viewpoints on the History of Digital Synthesis. In: Proceedings of the 1991 International Computer Music Conference. San Francisco. International Computer Music Association.
  • Roads, C. 2001, Microsound, MIT Press.
  • Ruviaro, B. 2014, A Gentle Introduction to SuperCollider. https://ccrma.stanford.edu/~ruviaro/texts/A_Gentle_Introduction_To_SuperCollider.pdf
  • Mayer D. 2019, PbindFx: an interface for sequencing effect graphs in the SuperCollider audio programming language. In: Proceedings of the 14th International Audio Mostly Conference: A Journey in Sound, September 2019, pp. 287-291. https://dl.acm.org/doi/10.1145/3356590.3356639

Daniel Mayer

Daniel Mayers Musik wurde auf internationalen Festivals für elektronische und zeitgenössische Musik aufgeführt und mit dem Giga-Hertz-Preis 2007 am ZKM Karlsruhe ausgezeichnet. Er absolvierte Studien der Mathematik und Philosophie an der Universität Graz und Komposition bei Gerd Kühr an der KUG. Nachdiplomstudium an der Musikakademie Basel bei Hanspeter Kyburz. Seit 2011 tätig am Institut für Elektronische Musik und Akustik Graz (IEM). Im Wintersemester 2022/23 war er Edgard-Varèse-Gastprofessor an der TU Berlin. 2023 Habilitation in Computermusik und Klangkunst.

Artikel von Daniel Mayer
Originalsprache: Deutsch
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